Die algorithmische Beobachtung und Analyse unseres Verhaltens droht demokratische Entscheidungsprozesse und individuelle Autonomie durch scheinbar effizientere Datenverwaltung abzulösen. In einem kommenden politischen Zeitalter wäre unsere Zukunft errechnet und vorbestimmt. Die Gruppe Laokoon schlägt zur Gegenwehr die theatrale Selbstbeobachtung vor und baut zu diesem Zweck eine digitale Plattform auf.

 

Kurz nach Mitternacht, am 30. Dezember 2019, veröffentlichte das kanadische Start-Up BlueDot eine Reisewarnung: Ein vermehrtes Aufkommen von „ungewöhnlichen Lungenentzündungsfällen“, die um einen Markt in Wuhan, China, auftraten, war der Grund. Erst zehn Tage später veröffentlichte die Weltgesundheitsorganisation ihre offizielle Erklärung. Wie war es einem Start-Up möglich geworden, so viel früher die Gefahr vorherzusehen? Die Antwort lautet Big Data: Selbstlernende Algorithmen können Daten von unzähligen Quellen analysieren, darunter Erklärungen offizieller Organisationen des Gesundheitswesens, aber auch digitale Medien, globale Flugdaten, Berichte über die Gesundheit von Viehbeständen oder demografische Bevölkerungsdaten. Aus den Mustern, die die Algorithmen ermitteln, lassen sich Vorhersagen erstellen. Technologiekonzerne wollen mithilfe von Predictive Analytics die Zukunft erobern. Könnten wir also künftige Krisen vermeiden, wenn wir unser Schicksal in die Hände Künstlicher Intelligenzen legen, statt fehleranfälligen oder ungenauen menschlichen Einschätzungen zu vertrauen?

Die Bereiche, in denen Formen der algorithmischen Vorhersage schon heute zur Anwendung kommen, sind mannigfaltig: die Marktforschung, das Gesundheitswesen, die Finanzdienstleistungen, der Sicherheitssektor und nicht zuletzt die Klimaforschung. Glaubt man den Erzählungen aus dem Silicon Valley oder aus Shenzhen, sind der algorithmischen Vorhersage keine Grenzen gesetzt: Googles Partnerunternehmen DeepMind will individuelle Krankheitsrisiken, Krankheitsverläufe und Todeszeitpunkte vorhersagen können, ein anderes Tochterunternehmen des Konzerns aus Mountain View will schon heute prophezeien können, wer künftig Suizid begeht. Weltweit nutzen Polizeibehörden Software, um vorherzusehen, in welchem Stadtviertel der nächste Mord begangen wird. Mittels GPS-Daten werden Versammlungen von Menschen vorhergesagt, bevor sie entstehen, sogar der Verlauf von Kriegen soll errechnet werden können.

Die algorithmische Vorhersage nutzt meist Muster der Gegenwart bzw. der Vergangenheit, um erwartbare Zukunftsszenarien zu generieren — als ob sich das Gewesene nahtlos in die Zukunft ausdehnen würde. Doch die Zukunft ist keine stringente Verlängerung der Vergangenheit, sondern ereignet sich oft sprunghaft und unerwartet. Die noch immer andauernde Pandemie hat uns das allen schonungslos vor Augen geführt. Und selbst wenn es möglich wäre, mit einem Fernglas in die Zukunft zu sehen und es sich etwa im Falle der Virus-Risikoprognose von BlueDot nicht um einen Zufallstreffer gehandelt hat — schon allein das Beispiel der Klimakatastrophe führt uns vor Augen, dass das Wissen um die desaströsen Konsequenzen unseres heutigen Handelns keinesfalls zwangsläufig zu einem anderen Verhalten führt.

Davon kann auch Laokoon, trojanischer Seher und Namensgeber unserer Künstlergruppe, ein Lied singen: Seine Warnungen vor dem trügerischen geschenkten Gaul der Griechen blieben ungehört, das trojanische Pferd wurde zum Sinnbild einer verschleierten Gefahr. Im überlieferten Mythos ist der trojanische Priester der tragische Held, dessen Warnungen zu Unrecht ungehört blieben. Die Moral von der G’schicht könnte die Blaupause für die Erzählungen sein, die die Marketingabteilungen der Tech-Konzerne verbreiten: Nicht die Komplexität der globalisierten kapitalistischen Welt, sondern der mangelnde „Glaube“ des Volkes an die Vorhersagefähigkeiten der Algorithmen sei schuld an der unerwarteten Wucht, mit der uns Ereignisse wie Finanzkrisen, Hungersnöte oder eben Pandemien treffen.

Dabei ließe sich der Mythos von Laokoon auch ganz anders erzählen, wie etwa beim antiken Dichter Vergil: Die Prophezeiungen des Sehers beschreiben in seiner Darstellung nur ein Symptom, hinter dem ein göttlicher Machtkampf steckt. Die spektakuläre Weitsicht wurde Laokoon als Gegenleistung dafür verliehen, dass er ihnen diente. Erst in der Erzählung dieser Zusammenhänge zeigt sich die Pointe der magischen Enthüllung als Teil eines kaschierten, wenn man so will machtpolitischen Konflikts. So wenig Laokoons Sicht hinter das Holz des trojanischen Pferdes gegen den Untergang Trojas ausrichten konnte, so wenig wäre es heute damit getan, die Black Box der Algorithmen zu durchlöchern. Die Rufe nach Transparenz von Algorithmen verkennen, dass es mit der Offenlegung von Codes nicht getan ist. Auch offene Datensätze allein ändern nichts daran, dass zu ihrer Auslese und Weiterverarbeitung genau die hochentwickelten Algorithmen benötigt werden, die im Besitz milliardenschwerer Konzerne sind. Um das vermeintlich immaterielle Digitale zu enthüllen, gilt es, wie beim trojanischen Holzpferd, die Geschichte zu erzählen, in die seine Erscheinung interessengeleitet eingebettet ist. In der Gegenwart handelt diese von privatwirtschaftlichem Einfluss auf das politische Geschehen und von dessen Verschleierung durch das (digitale) Spektakel.

Mythen können ermächtigen oder entmächtigen — in jedem Fall schaffen sie Realitäten. In diesem Sinne ist es für uns Menschen des Digitalzeitalters entscheidend, die Prophezeiungen und deren mythische Kraft nicht den Tech-Konzernen zu überlassen. Als Künstler können wir unseren Beitrag leisten, indem wir die Gemachtheit der Wirklichkeit enthüllen: Auch einem geschenkten Gaul darf man ins Maul schauen, um zu erkennen, dass die milde Gabe zum Himmel stinkt. Gleiches gilt für die kostenlosen Services von Google, Facebook und Co. Selbstverständlich kann auch jede unserer eigenen künstlerischen Erzählungen von der Wirklichkeit immer nur eine von vielen möglichen sein. Wir nehmen die Position von Beobachterinnen ein, ohne die Kontingenz dieser Position zu leugnen. Systemtheoretisch beschrieben geht es im zeitgenössischen Theater um das Beobachten des Beobachtens:  Indem Menschen durch die Rezeption einer Aufführung ihre eigene Erregbarkeit erleben, lernen sie sich neu kennen. Doch die Selbstbeobachtung ist immer schon eine Beobachtung, die sich selbst tautologisch erschafft. Im Theater mag das vergleichsweise harmlos sein, doch auch die Smartphones, Laptops und Wearables, die uns beobachten, sorgen wiederum für Selbstbeobachtungen ihrer Nutzer, die deren Selbsteinschätzung, ihre Identität und ihr Verständnis von der Wirklichkeit nachhaltig verändern. Dieser Aspekt wird in der Erzählung von den vermeintlich unbestechlichen, objektiven Daten oft unterschlagen: Zwar resultieren unsere persönlichen Daten aus der Beobachtung unseres Verhaltens (aus einer möglichen Beobachtung wohlgemerkt), aber sie erzeugen auch Verhalten, indem sie uns ein künftiges Handeln (das als uns authentisch eigen beschrieben wird) nahelegen. Die Beobachtung wird erst zur Beschreibung und dann zur Steuerung. So können algorithmische Vorhersagen zu selbsterfüllenden Prophezeiungen werden, wenn wir den vermeintlich persönlich auf uns zugeschnittenen Empfehlungen Folge leisten und dabei umso mehr das Gefühl haben, unserer eigenen Persönlichkeit gemäß zu handeln.

Als Künstlerinnen im digitalen Zeitalter kann es uns deshalb nicht nur darum gehen, den Zuschauern das Beobachten ihres Beobachtens zu ermöglichen, sondern immer auch darum, die digitalen Beobachtungsinstanzen und ihr Beobachten zu beobachten: die Daten-Unternehmen und die Produkte und Services, die uns zur Produktion von Daten verleiten, Cookies und Tracking-Verfahren, die den Unternehmen das beinahe vollumfängliche Überwachen unseres Verhaltens erlauben. Theatral interessant wird es, wenn wir unserem Publikum ermöglichen, selbst das Beobachtetwerden durch die digitalen Beobachtungsinstanzen zu beobachten.

In unserer aktuellen Arbeit entwickeln wir deshalb zusammen mit Programmiererinnen eine digitale Erzählform, die es den Besuchern unserer Storytelling Website erlaubt, Instrumente und Verfahren der Überwachung in Aktion zu erleben. Unsere Enthüllung des Digitalen wird hier nicht darin bestehen, mittels einer exemplarischen Erzählung über die Gefahren der Überwachungstechnologien aufzuklären. Die Website soll stattdessen die sonst verstreuten und unscheinbaren Momente der digitalen Beobachtung so in einen Sinnzusammenhang stellen, dass sie für die Beobachteten beobachtbar werden. Im Idealfall dreht sich die Feedbackschleife noch eine Windung weiter. Dann entsteht auf Seiten des Publikums ein Moment der Selbstbeobachtung beim Beobachten des Beobachtetwerdens: Wie fühlt es sich an, zum granularen Daten-Produzenten und -Produkt degradiert zu werden? Was passiert mit mir, wenn die eigenen Labilitäten, Ängste und Begehren durch das sogenannte Microtargeting kommerziell oder politisch ausgeschlachtet werden — etwa indem Menschen mit maßgeschneiderten Botschaften in ihren destruktiven Verhaltensweisen bestärkt werden? Wie erkenne ich, dass durch meine eigenen Daten eine Industrie mitbefeuert wird, für die psychische Probleme, Süchte und Krankheiten Profit-Chancen bedeuten? Uns selbst im Moment der Beobachtung durch dritte Instanzen zu beobachten, bietet die Chance, uns der eigenen Blind Spots und Wahrnehmungsmuster bewusst zu werden, die Daten- Unternehmen gezielt ausnutzen. Tatsächlich verhandeln wir auf unserer digitalen Bühne eine der größten Fragen des Menschseins: unsere Autonomie.

Wir stehen an der Schwelle zur „hellseherischen Gesellschaft“, in der das Verhalten von Menschen individuell vorhergesagt und kontrolliert werden können soll. Das Phantasma der berechenbaren Zukunft unterwandert den Glauben an die Gestaltbarkeit der Zukunft. Die Soziologin Elena Esposito hat wiederholt darauf hingewiesen, wie im Zwischenbereich der Gegenwart der Zukunft und der künftigen Gegenwart Handlungsspielraum besteht. Wir haben es trotz aller anderslautenden Prophezeiungen selbst in der Hand, die Zukunft zu gestalten. Die fast mantrische Beschwörung der Vorhersage-Kapazitäten der Künstlichen Intelligenz erzeugt den Eindruck eines schicksalhaften technologischen Fortschritts, in den wir Menschen uns zu fügen haben. Doch wie bei jedem Mythos verpufft seine Wirkung, wenn wir ihm den Glauben entziehen. Wie fortschrittlich ist eine Welt, in der wir nicht mehr sind, sondern immer schon gewesen sein werden? Die Idee menschlicher Autonomie können wir demgegenüber nur verteidigen, wenn wir den Mythos der algorithmischen Vorhersage selbst in Frage stellen. Der beste Ort dafür ist das Theater. Denn statt uns durch die Digitalwirtschaft beobachten und damit feststellen zu lassen und uns willfährig in unsere Rolle als Daten-Träger zu fügen, können wir uns — immer wieder aufs Neue — selbst bezeichnen mit jeder überraschenden Beobachtung unserer selbst. Wir können andere beim Beobachten beobachten und unsere Beobachtungen teilen, sie miteinander vergleichen und um sie streiten. Lustvolle Anlässe dafür zu schaffen, das ist Aufgabe von uns Künstlern und Künstlerinnen. Die Bühne des Digitalen steht uns offen.

Laokoon

Laokoon entwickelt Essays, Dokumentarfilme, Theaterproduktionen, Lectures und Hörspiele. Die Arbeiten der Gruppe setzen sich mit der Frage auseinander, wie sich die Vorstellung von Mensch und Gesellschaft im digitalen Zeitalter verändert. Cosima Terrasse entwickelt partizipative Performanceprojekte und lehrt am Social Design Studio der Universität für angewandte Kunst in Wien. Der Dokumentarfilm „The Cleanersvon Hans Block und Moritz Riesewieck über die Schattenindustrie der digitalen Zensur in Manila hatte seine Weltpremiere auf dem Sundance Film Festival 2018 und war für den Emmy Award sowie den Deutschen Fernsehpreis nominiert. Im September 2020 ist ihr Buch „Die digitale Seeleim Goldmann Verlag erschienen.

Made to Measure

Mit dem Projekt „Made to Measure“ unternimmt Laokoon ein künstlerisches Datenexperiment. Über einen Open Call motivierte die Gruppe im Sommer 2020 Menschen aus ganz Europa, Suchmaschinen und Social Media zur Herausgabe ihrer persönlichen Daten aufzufordern und diese für ein theatrales Experiment zur Verfügung zu stellen. Die Künstlerinnen wetteten, aus dem digitalen Datensatz eines ihnen unbekannten Menschen einen analogen Doppelgänger erschaffen und auf die Bühne bringen zu können. Das digitale Theater-Experiment macht in bisher einzigartiger Weise die Praxis werbefinanzierter Technologie-Konzerne erlebbar, die mithilfe sehr persönlicher Daten ihrer Nutzer immer präzisere Persönlichkeitsprofile und Verhaltensprognosen erstellen und mit maßgeschneiderten Werbebotschaften deren Schwächemomente und Krisen ausnutzen. Wie berechenbar ist der Mensch im Zeitalter riesiger Datensätze? Führen uns digitale Großkonzerne in die hellseherische Gesellschaft oder sind ihre Vorhersagen selbsterfüllende Prophezeiungen? „Made to Measureentwickelt Laokoon in Kooperation mit der Kulturstiftung des Bundes, die das Initiativprojekt mit 240.000 Euro ermöglicht. Analog umgesetzt wird das Projekt auf PACT Zollverein.

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