Die fahrende Plastikschamanin

Stefanie de Velasco

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40 Jahre irrten die Israeliten durch die Wüste, nachdem sie aus Ägypten ausgezogen waren – 40 Jahre. Das ist mein ganzes Leben. Dieses Herumirren war eine Strafe Gottes, er ließ die Israeliten im Kreis laufen, immer wieder vorbei am gelobten Land zurück in Richtung Wüste, weil sie latent undankbar waren und diesen Gott, der sie aus der Sklaverei befreit hatte, oft kränkten, durch goldene Kälber, die sie sich schmiedeten, Bambis zum Anbeten, wenn der lange Marsch nach Kanaan sie langweilte, erschöpfte.

40 Tage verbrachte Jesus in der Wüste, wurde nach seiner Taufe von einem Geist auf den Berg der Versuchung getrieben. Er fastete, ließ sich vom Teufel alle Königreiche der Welt anbieten. All das bekommst du, all die Pracht, sagte der Teufel, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.

40 Jahre regierte der belgische König Leopold über den Kongo. Geschätzt 10 Millionen Kongolesen kamen unter seiner Herrschaft ums Leben, die Hälfte der Bevölkerung. Wer nicht genügend Kautschuk erntete, dem wurden die Hände abgehackt. Im heutigen Leopoldpark in Brüssel liegt die Solvay-Bibliothek, die auch Europabibliothek genannt wird, „in the heart of the European District“ – so steht es auf der Website.

Als Kind habe ich mir gern den Weltatlas angeschaut. Afrika hieß immer nur Afrika, so haben wir es von klein auf gelernt, ein Wort so präzise, wie das Wort Scheide oder Obst – als sei es nicht mehr als ein Haufen Erde, Fleisch und Früchte: Gold, Versklavte und Bananen. Diese geraden Linien, die den Kontinent durchziehen und ihn in Staaten teilen, verwunderten mich als Kind. Was für ein ordentlicher Kontinent, dachte ich, wieso ist das in Europa nicht so, wieso sind die Grenzen hier so unordentlich und zittrig gezogen? Da stimmt was nicht. Da war wer dran, da ist wer mit dem Geodreieck drüber, von oben aus, hat einfach auf Papier die Erde gespalten, so wie der Gott der Israeliten das Rote Meer – hat Blutvergießen gebracht.

40 Tage, so lange saß ich vor der Akademie der Künste, streikend, um irgendwie darauf zu kommen, was jetzt Texte der Zeit sind, was literarisch derzeit was bringt und was nicht, und damit meine ich keine Preise oder Nominierungen oder Longlistplatzierungen oder einfach nur Klicks, all die verführerischen Königreiche, die Pracht, mit der sich alle schmücken wollen, die schreiben, sondern der Frage nachzugehen, was wir eigentlich brauchen, wollen – wie wir das angerichtete Chaos, die angerichtete Gewalt und unendliche Vernichtung, wie wir damit leben, wie wir darüber sprechen und erzählen sollen. Was will ich für Texte schreiben? Was brauche ich für Texte, um die Gegenwart zu stemmen, zu ertragen, zu verstehen, zu fühlen, zu gestalten? Wie kann ich mit diesem westlichen Erbe – mit diesen Leopolds und Wilhelms, die alles kaputt gemessen haben, Menschen, Tiere, Pflanzen, – mit mir selber, meiner eigenen Kultur umgehen?

Deswegen habe ich mich da hingesetzt, weil ich nicht weiter wusste. Nicht als Zeichen, sondern der Pariser Platz war meine Wüste. Die Leute dort gingen zur Arbeit, in die Bank, die Leute, die in die Akademie gingen, starrten – genauso wie die, die in die Bank gingen. Was macht die hier? Ist die überhaupt Schriftstellerin? „German Writer on Climate Strike“, wer weiß, ob die das nur behauptet, was da auf dem Schild steht, um sich wichtig zu machen. Wieso sitzt die denn nicht daheim und schreibt, macht ihre Arbeit?

Ich schämte mich. Ich saß da wie eine Plastikschamanin auf der Suche nach dem allwissenden Müllhaldenorakel. Ich habe den Müll befragt, der da rumlag, Snickersverpackungen, leere Patronen von E-Zigaretten, Togo-Kaffeebecher … ich meine … To Go. Jeden Schaumstern. Eines Morgens flogen über dem Brandenburger Tor Schaumsterne. Neben der Akademie stand ein Mann, der aussah wie ein Eismann, jedoch hielt er einen Badmintonschläger in die Eisbox vor ihm. Ich rieb mir die Augen, stand auf, um besser sehen zu können. Da stand keine Eisbox, sondern ein mit Schaum gefüllter Behälter, der nur aussah wie eine Eisbox und der Eismann war gar keiner, sondern grinste nur wie einer, wie jemand, der was verkauft, was alle für ganz kurz glücklich macht, so was wie Eis oder Ladykracher. Der Badmintonschläger war ein Sternenschaumschläger und der Mann hielt den Sternenschaumschläger in die Luft, nachdem er ihn in die Box getaucht hatte, in der Schaum war. Ich weiß, wie irre das klingt, aber es ist die Wahrheit. Unglaublich, aber genau so ist es passiert. Der Schaum in Sternform segelte hoch in den Himmel, und die Leute lächelten und hielten ihre Telefone hoch, und fanden das schön, diesen totalen Müll, und dann – es ist die Wahrheit – fuhr ein Auto vor, und die Kanzlerin stieg aus und verschwand in dem Gebäude. Später fuhr sie an mir vorbei, aber sie sah mich nicht, sie hat sich auf den Rücksitz gesetzt und ihr Telefon rausgeholt. Später kam jemand vorbei und meinte, da wäre so eine Sache gewesen – mit Sport und Integration.

Die Scham, die Kälte und die Langeweile versetzten mich in Trance. Einmal sah ich mich durch eine zerstörte Landschaft mit einem sehr seltsamen Fahrrad fahren. Das Rad sah aus wie ein Miniplanwagen und war mit ewigem Kohl bepflanzt. Ich hatte niemanden, ich fuhr durch gelbe vertrocknete Felder, vorbei an Bächen, die ohne Vorwarnung zu Wassermonstern werden können, die alles mit sich reißen. Ich sah mich Trüffel sammeln, die mein Hund aufspürte (er kann das wirklich, ich habe es ihm beigebracht mit Überraschungseiern und Trüffelöl), ich sah mich sie verkaufen, an Festungen, in denen sich die Oberen verbarrikadierten, Klöster und Schlösser ohne Kontakt zur Außenwelt. Die Trüffel tauschte ich wie die Kekse bei den Klausurnonnen von Santa Clara durch eine Holzdrehtür, ohne je wen zu Gesicht zu bekommen. Ich weiß nicht, gegen was ich die Trüffel tauschte.

Ich habe mir mein Schild unter den Arm geklemmt und bin nach Hause. Ich bin nach Kiel und habe das Fahrrad gebaut. Vielleicht hätte ich auf diesen Müll nicht hören sollen. Ich habe darauf gehört, ich habe aus Müll dieses Fahrrad gebaut – aus Zeltstangen, Bundeswehrplanen, Fahrradwracks und alten Betten – ich habe versucht es so zu bauen, wie es in Trance aussah. Dass ich es kaum vom Fleck kriegen würde, darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht, dass dieses Lastrad eine Last werden würde, eine riesige Bürde, das alles habe ich nicht geahnt. Beim Fahren fragte ich mich, was liegt da hinten bloß drin, dass ich kaum in die Gänge komme, und je länger ich fuhr, desto klarer wurde mir: Da liegt alles drin, die ganze Entdeckerscheiße, diese Abenteuer- und Eroberungslust liegt darin, all die Ermordeten, all die Bodenschätze, die Bananen und natürlich diese Schaumsterne, dass die so schwer sein können. Ich habe lange nach einem Namen gesucht für dieses Fahrrad, ich hatte eigentlich vor, es Sternenschaum zu nennen, mein Glitzerpferd mit dem ich durch Grauland reise, weil es das Rad ohne die Schaumsterne womöglich gar nicht geben würde, aber dann habe ich das Rad Europa genannt.

Ich fuhr durch die Gegend, ich wusste nicht, wonach ich suchte. Ich habe darüber geschrieben, über die Reise und über diese Ratlosigkeit – wie sonderbar es ist zu wissen, dass ich etwas suche, aber nicht weiß was. Ich kam mir vor wie Don Quijote, verloren in La Mancha. Ich habe keine Trüffel gefunden, der Hund hat keine Trüffel gefunden, er wollte nicht ins Fahrrad, hat sich geweigert. Ich bin gefahren, solange bis ich geblutet habe, meine Regelblutung kam, immer und immer früher, zuerst eine Woche zu früh, dann zwei Wochen, irgendwann dann kam sie so früh, dass sie gleich wieder kam, nachdem sie grad gegangen war. Athletinnen passiert das.

Ich habe mich in das Rad gelegt. Ich war so müde. Es war wie tot sein, wie Probeliegen im Sarg. Ich habe im Rad gelegen. Ich habe geschrieben, alles aufgeschrieben. Ich habe das Müllorakel befragt. Snickersverpackungen, Togobecher, leere Patronen von E-Zigaretten. Immer und immer wieder. Wonach suche ich, habe ich gefragt? Wonach suchen wir? Irgendwo draußen sang sich eine Nachtigall in Rage, sie klang wie eine Geisteskranke.

Stefanie de Velasco

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Stefanie de Velasco wuchs als Kind spanischer Einwanderer im Rheinland auf, studierte Europäische Ethnologie und forschte zum Thema Klimawandel in urbanen Kulturen. Ihr Debütroman „Tigermilch“ (2013) wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt. In ihrem zweiten Roman „Kein Teil der Welt“ (2019) erzählt sie vom Aufwachsen bei den Zeugen Jehovas. Von November 2019 bis Februar 2020 streikte sie vor der Akademie der Künste in Berlin für eine gerechtere Klimapolitik. Daraus entstand der Gedanke, aus Schrott ein Wohnfahrrad zu bauen und damit durch die Republik zu fahren, als eine Art Pilger- und Bildungsreise. Derzeit promoviert sie bei Prof. Dr. Stephan Porombka zu diesem Thema an der Universität der Künste und schreibt ein Buch über die Erfahrungen und Erlebnisse der Fahrt.

The White White West?

Gemeinsam mit einer vielstimmigen Gruppe von Autorinnen, Übersetzern und Literaturkollektiven war Stefanie de Velasco Teil der künstlerischen Besetzung des Literaturprojekts „The White White West?“, welches von Mai bis September 2021 auf der Burg Hülshoff in Westfalen stattfand. Am Geburtsort der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff untersuchte das Burg Hülshoff — Center for Literature gemeinsam mit dem internationalen AutorInnenkollektiv foundintranslation den deutschen Literaturbetrieb und entwickelte einen Entwurf für eine multilinguale, transnationale und diverse Literaturwelt. Audiovisuelle Beiträge des Projekts können in der Mediathek des Center for Literature abgerufen werden; zudem wird im Dezember 2021 eine Publikation mit Beiträgen aus dem Gesamtprojekt erscheinen.

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