Generation Super 68

von Manuel Gogos

Jede Generation wählt sich ihre Generationsobjekte. Aber es macht staunen, wie nachhaltig die Kohorte 68 ihren Zusammenhang durch jahrgangsspezifische Erlebnisse und ekstatische Milieuwirkungen begründet hat. Und wir Nachgeborenen, zu umständlicher Deutungsarbeit aufgerufen, graben nun in einer Art Archäologie der Gegenwart im eigenen Vorgarten ihre glücklich pubertären Wünsche aus, Krokodilstränen der Revolution, betrachtet aus der sicheren Entfernung der späten Geburt. Kritik war euer Leitmotiv, die Republik irgendwo zwischen Marx und Freud intellektuell nachzugründen: O-Ton einer Generation: «Mitmachen wollten wir nie, wir waren anders und wir wussten es besser. Wir nahmen unsere Träume für die Wirklichkeit. » Sprüche traumatisierter Trümmer- und halbstarker Täterkinder, die auf dem Zivilisationsbruch den Kalten Krieg ausbalancierten. Mit den befremdeten Augen des Ethnologen und dem verzeihenden Blick des Therapeuten lächeln wir euch über den Graben der Generationen hinweg zu. Durch die Fronten zwischen Staatsmacht und Außerparlamentarischer Opposition geschleust, betreten wir die Vergangenheit wie einen Film. Eingetaucht ins gelbliche Licht von Super 8 schwimmen Menschenmassen gegen den Strom. Und da wird sie, leicht verwackelt, sichtbar, die Bewegung. («Nieder mit Parmenides, es lebe Heraklit», stand an der Sorbonne zu lesen.)

Es ist nicht leicht, es zu besichtigen, dieses schizoide Jahr, in dem Vorlesungen gesprengt und Puddingattentate verübt wurden, in dem Kaufhäuser des Westens den Flammen übergeben und mit dem Gedanken gespielt wurde, darin gleichfalls deutsche Schäferhunde von ihrem Nationalismus zu heilen. Es ist einfach zuviel passiert. Good Old Enzensberger berichtet von den psychedelischen Doppelbelichtungen: «Ein Gewimmel von Reminiszenzen, Allegorien, Selbsttäuschungen, Verallgemeinerungen und Projektionen hat sich an die Stelle dessen gesetzt, was in diesem atemlosen Jahr passiert ist. Die Erfahrungen liegen begraben unter dem Misthaufen der Medien, des ‹Archivmaterials› […] einer Wirklichkeit, die unter der Hand unvorstellbar geworden ist. Mein Gedächtnis, dieser chaotische, delirierende Regisseur, liefert einen absurden Film ab, dessen Sequenzen nicht zueinander passen. Vieles ist mit wackelnder Handkamera aufgenommen. Die meisten Akteure erkenne ich nicht wieder. Je länger ich mir das Material ansehe, desto weniger begreife ich. […] Es war nicht möglich, das alles gleichzeitig zu verstehen.» (Erinnerungen an einen Tumult, in: Jiri Kolàr, Tagebuch 1968).

Die Rekonstruktion des Jahres 1968 wird deshalb eine surreale, eine kubistische Form annehmen: ein Auge zu groß, ein Ohr an falscher Stelle angeklebt. Die Echos von damals mal emphatisch, mal ironisch: «Adenauer ins Altersheim»; «De Gaulle ins Museum». Jetzt seid ihr eben selber dran. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft kommt die Musealisierung des Alltagslebens über euch, die ihr erst gesellschaftsfähig gemacht habt; eure Kulturrevolution ausgestellt als rotstichiges Stilleben, (gescheiterte) Utopien als begehbares Ensemble. (Aber schließlich hattet ihr roten (Avant-)Gardisten selbst schon damit begonnen, aus euren Idolen Pop-Ikonen zu machen, hattet in Abendveranstaltungen Aus euren Prozessakten gelesen oder Materialien zurKommuneforschung herausgegeben.) 

Ihr Frauen habt uns aus der Hocke hineingeboren in die Pflicht zum Ungehorsam: Spiel (nicht) mit den Schmuddelkindern, sing (nicht) ihre Lieder. Und uns die Leviten gelesen: Ihr Jungen seid so wenig wild, so zahnlos zahm. Und Hair habt ihr auch kaum mehr. Ihr Männer habt uns gelehrt. Lauter kleine bunte Nazijäger, imprägniert mit bösen Ahnungen, durchbohren seither jeden über siebzig mit argwöhnischem Blick. 

Das sind Splitter unseres gemeinsamen Familienromans, die uns im Herzen stecken, eines kulturellen Erbes, mit dem wir die von euch in Scherben geschmissene Welt behutsam wieder zusammensetzen. Da tauchen Bilder des deutschen Nachwuchsrevolutionärs Rocky Dutschke auf, den hatte keiner gewählt, der war erwählt. Eineinhalb Stunden lang predigt er auf Zehenspitzen die Revolution, der apostelhaft schöne Apo-Sprecher, und verbreitet Pfingststimmung: «Genossen! Wir haben nicht mehr viel Zeit. In Vietnam werden auch wir tagtäglich
zerschlagen, und das ist nicht ein Bild und keine Phrase!» 

Dann dämmern und lügen die Bilder der Kommune I, Ikonen einer Situationistischen Internationale, Abteilung Deutschland: Langhans, der Anti-Struwwelpeter, und seine knospende Uschi Obermeier mit ihrem Konzept vom Modeln für die Revolution sind mit dem Teufel im Bunde. Mit den Bilderserien ihrer avantgardistischen Freak-Show wollen sie Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit erregen. (Doch wer hat je einem Kommune-Bewohner ins Herz geschaut?) Nackte Leiber, von künstlerisch begabten Stern-Reportern im Setzkastenformat ineinander gesteckt. Die Hofnarren der Nation verhandeln ihren Preis, um das Alltagsleben als kolonisierten Sektor zu entlarven: Revolutionäre Spieler aller Länder, vereinigt euch! Während sich die internationalen Spaßguerilleros so links und lustig an Marx zurückbinden, flattert ihnen Fanpost ins Haus: «Lässt man sich lange Haare wachsen, ist man da gleich ein Gammler?» «Darf ich einmal bei euch übernachten? Ich bin 14 und meine Mutter ist dagegen.» Und aufrechte Sozialisten aus der Provinz schreiben ihnen ins Poesiealbum: «Ihr Primadonnen in Berlin seid doch alle nur Spießer.» 
Dann verfing sich der Schuss. Die Revolution begann ihre Kinder zu fressen. Angesichts des ganzen Ohnesorg-Theaters stellte sich die Frage nach der Gewalt. Und bald wurde aus allen Rohren scharf geschossen, mit Buchstaben, Bildern und Kugeln. Nach dem Anschlag auf seine Person schrieb Dutschke einen Brief an seinen Attentäter Josef Bachmann: «Du warst nur ein Rädchen im Getriebe.» Bachmann antwortete: «War nicht persönlich gemeint.» Blut trat aus, das Private war öffentlich geworden. Aber noch tanzte Andreas Baader mit Fritz Teufel auf der Straße. Der Rest: terroristische Aktionen mit den Waffen des Weiberrates (Stichwort: Busenattentat.) Der arme Adorno, genannt ‹Teddy›, der nicht mit den Mädchen spielen durfte. Gerade noch von Kofferträgern umringt, mit aufklärerischen Lichtmetaphern die Nachkriegsgesellschaft erhellend, erlag er den Verletzungen durch seine eigene negative Dialektik. 

Im Grunde macht das beim Blick zurück am meisten Staunen. Die phantasmagorischen Erregungszustände dieser Achsenzeit, ihre Sprachformen und -formeln, ihre Rhetorik der Naherwartung, Hier spricht die Revolution: «Was wir heute weltweit sehen, das sind keine Demonstrationen, das sind keine Streiks mehr, das ist eine Bewegung. Es wird in absehbarer Zeit zu einer dramatischen Krise des Kapitalismus kommen. Aber die Bourgeoisie wird ihre Macht niemals kampflos aufgeben, ohne den Druck der revolutionären Massen. Folglich liegt das Problem einer sozialistischen Strategie von nun an in der gezielten Errichtung der objektiven und subjektiven Bedingungen der Revolution. Was wir jetzt als Nächstes erwarten, ist der Sturz der Regierung.» 

So sieht man sie beim Gang aufs Holodeck in Aktion - in Berlin, im Prager Frühling und Pariser Mai. Und lässt sie auf sich wirken, diese unwahrscheinlichen, diese unmöglichen Orte mit tausend verschiedenen Anschlägen, Wandzeitungen, Klo- und Mauersprüchen. Proklamationen, die das falsche Bewusstsein vertreiben sollen, Manifeste, Sprüche und Parolen, überfallartige, aufrüttelnde Appelle an Passanten im Gewohnheitstrott. In ihrer ganzen breitgefächerten Materialität aus Flugblättern und Stein, Typen und Handschrift, Siebdruckfarbe und Blut. Des Nachts hergestellt, wie verrückt hingeschrieben, hingedruckt, hingeklebt: «Die Angst vor der roten Farbe überlassen wir den Rindviechern.» «Die Gesellschaft ist eine Fleisch fressende Pflanze.» «Nur die Wahrheit ist revolutionär.» «Vergewaltigt eure Alma Mater.» «Sartre ist ein Opportunist.» «Daniel Cohn-Bendit ist nicht Brigitte Bardot.» 

Auf den Säulen, die diese Weltanschauungsbörse in allen Himmelsrichtungen flankieren, prangen die Säulenheiligen Mao, Che, Ho. Trikontinentale Trinität, die den Dschungelkampf der Dialektik überstrahlt: Antikapitalistisches, Antiimperialistisches, Antikolonialistisches, Antidiktatorisches, Antiautoritäres. Martin Luther King zitiert Mahatma Gandhi, der Thoreau zitiert. Degenhardt zitiert Mikis Theodorakis, der Pablo Neruda zitiert. Sartre zitiert Fanon, der Sartre zitiert: Kuba-Solidarität, Griechenland-Solidarität, Spanien-Solidarität, Chile-Solidarität, verbale Care-Pakete und Schnabeltassen für pensionierte Diktatoren. Der neuralgische Punkt des international synchronisierten (Auf-)Begehrens liegt in der Höhle des Löwen, den USA, dem Pentagon. Hier sitzen die Regisseure vom Schaukastenkampf Vietnam selbst im Glashaus, The Whole World is Watching.

«Vietnam ist das KZ der Amerikaner», weiss Peter. Damit werden wir uns nie aussöhnen. Mit dieser Selbstsicherheit, dass sie die Gerechten waren. Ihre Kunstfertigkeit, anderen eine lange Nase zu ziehen. «Ihr seid alle nur Banditen» (KD Wolff vor dem amerikanischen Untersuchungsausschuss), «wir haben uns glänzend amüsiert» (Daniel Cohn-Bendit vor dem französischen Untersuchungsausschuss), und dann chorisch: «Wir sind alle deutsche Juden.» Dieser großspurige, großsprecherische
Stil damals (griechisch: «megaphon»), diese Übersteuerung, wie bei dem großen Vorsitzenden Mao: «Alle Imperialisten sind Papiertiger.» Die neue Linke läuft ihm auf der Suche nach dem revolutionären Subjekt direkt in die Arme. Die Arbeiter waren es, die «Gastarbeiter» sind es, die dritte Welt ist es. Und der sanfte Revolutionär
Che Guevara ihr Messias: «Es ist die Pflicht des Revolutionärs, die Revolution zu machen.» In der «Botschaft an die Völker der Welt» ruft er die USA zum Erzfeind des Menschengeschlechts aus, lange vor der Zeit: «Tragt den Krieg in die Metropolen. Schafft zwei, drei, viele Vietnam.» (Auch die RAF fand die palästinensischen Kumpels einfach nur ‹dufte›.) Alle Händler aus dem Vorhof einer Welt vertreiben wollte er, die einmal dem ‹Volk› gehören sollte. Bis heute hängt der Pantokrator der Subkultur im Tabakladen von Algier, zwischen den Ketten gegen den bösen Blick, und raucht seine kubanische Zigarre. Ihr habt das vorausgesehen. Das gemorphte, das geklonte Photo Alberto Kordas in der libanesischen Autobahnunterführung, in der Wohnung
der chinesischen Prostituierten: Che als Weltkulturerbe, als Stachel im Fleische der Globalisierung.
Hätten die Befreiungstheologen in euren K-Gruppen nur nicht alles so ernst genommen: Mit stalinistischer Selbstkritik zu belegen, wer in euren Kommunen sein falsches Bewusstsein verriet. Marxistischleninistisch agitieren gehen in den Fabriken, eigene Lebenszeit zu opfern für diese Arbeitersache. Diene dem Volk und gehorche dem Kommando in allem, was du tust. Ein Zeitzeuge, der immer dabei, immer mittendrin war, erzählt, dass er nach den Aufregungen dieses Jahres erst einmal nach Italien gefahren ist, aufs Land, um sich diese ganzen Sensationen endlich wieder aus dem Kopf zu schlagen, dass er sie nachts gehört hat, die charismatischen Reden der Stimmführer, und dass es Jahre gedauert hat, seine Nerven zu beruhigen und
sie zum Schweigen zu bringen. Darum stehen uns die Hippies näher: «Wer seine Feinde besiegt, ist ein Held. Aber nur wer sich selbst bezwingt, ist der Meister.» Das steht in der Bhagavad Gita, die sie damals aus Indien eingeschleppt haben: Die Beatles (habt ihr sie in Rishikesh gesehen?) haben es besungen: You say you want a revolution /Well you know / We all want to change the world. / You better free your mind instead / But if you go carrying pictures of Chairmen Mao /You ain't going to make it with anyone anyhow.

Darum, ihr lieben 68er, danke für alles. Die Umkehrung aller Hierarchien,
das Ende aller Autorität, die grenzenlose Ausdehnung des Vergnügens. Für einen kurzen Augenblick war euch alles möglich erschienen, ihr hattet die Phantasie an die Macht geputscht. Unser Schicksal ist es, zwischen Anverwandlung und Verwerfung das Vatermorden zu beenden. Die erwachsene Gestalt unserer Folgegeneration sucht eure groben Konturen ins rechte Licht zu setzen und kulturell abzurunden. Eins müsst ihr doch zugeben: Die ‹Nacht der Barrikaden› im Pariser Mai, das war nichts weiter als ein Zitat. Aber dass «unter dem Pflaster der Strand liegt», das glauben wir noch immer. So können wir uns nun, da wir gemeinsam alt werden, beim vierzigsten 68er-Revival zuprosten. Molotow Cocktail in der Happy Hour, der Geschmack der Revolution rinnt uns die Kehle hinunter und wir prosten uns zu: All the good die young.

Über den Autor

Manuel Gogos, geboren 1970, ist promovierter Literaturwissenschaftler, Philosoph und Religionswissen-schaftler, Literaturkritiker und freier Autor u.a. für DLF, NZZ, 3 Sat. Er ist Mit-Kurator des Ausstellungsprojekts des Historischen Museums Frankfurt/ M. "Die 68er — Kurzer Sommer, lange Wirkung".

Die 68er - Kurzer Sommer, lange Wirkung

Im Jahr 2008 wird es eine ganze Reihe von Veranstaltungen geben, die die Ereignisse des Jahres 1968 und ihre Folgen historisch einzuordnen versuchen und auf ihre Nachwirkungen in der Gegenwart untersuchen. Die Kulturstiftung des Bundes fördert unter anderem eine kulturhistorische Ausstellung "Die 68er —Kurzer Sommer, lange Wirkung" in Frankfurt am Main. (1. Mai - 31. August 2008)

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