Flagge zeigen. Der Fotograf Jewgeni Chaldej

Von Peter Jahn

Der Sieg musste eindrücklich sichtbar gemacht werden: Auf dem eroberten Reichstag, den die sowjetische Führung zum Symbol der Naziherrschaft erklärt hatte, sollte die Rote Fahne aufgepflanzt werden. So wurden mit dem Ende der Kämpfe zahlreiche Fotokorrespondenten auf den Weg geschickt, um diesen Akt zu inszenieren. Die meisten dieser Fotos wurden auch veröffentlicht. Erinnert und immer wieder neu gedruckt werden allerdings die Fotos Jewgeni Chaldejs, die eine Gruppe von Rotarmisten beim Aufrichten der Fahne am 2. Mai 1945 zeigen. Nicht auf der Kuppel des Reichstags weht seine Fahne (er hatte sie aus Moskau mitgebracht), sondern an einer Seite des Daches, und nicht gegen den Himmel, sondern von oben schaute der Fotograf auf die Fahne und zugleich auf das zerstörte Berlin. Mit diesem dynamischen Ausschnitt hatte Chaldej den Sieg in einem Moment fixiert. Sein Foto steht weltweit für das Kriegsende in Berlin.

Chaldejs Rote Fahne auf dem Reichstag ist heute eine Fotoikone des Zweiten Weltkriegs. Und vom Zweiten Weltkrieg, dem Krieg, der vor allem anderen in Schwarz-Weiß-Fotos erinnert wird, finden sich auch etliche andere Fotos Jewgeni Chaldejs im Tableau der fotografischen Erinnerung: die Bewohner Moskaus, die am 22. Juni 1941 mit Bangen die Nachricht vom deutschen Überfall aus dem Straßenlautsprecher hören; die alte Frau mit dem schweren Holzkoffer auf dem Rücken, die vor dem Wald von Schornsteinen im niedergebrannten Murmansk umherirrt ; Marschall Shukow, der am 24. Juni 1945 auf einem Schimmel an den Truppen der Siegesparade auf dem Roten Platz vorbeigaloppiert; Hermann Göring im Nürnberger Gefängnis. Und auch das Bild Josef Stalins am Tisch der Potsdamer Konferenz im August 1945, eine Apotheose des Siegers in strahlend weißer Uniform, ist eines dieser geschichtsmächtigen Fotos.

Jewgeni Chaldej gehörte im Zweiten Weltkrieg zu der herausgehobenen Gruppe der Fotojournalisten, die für die zentralen Moskauer Publikationen (wie Prawda oder Iswestija) oder Agenturen (TASS, Sowinformbüro) arbeiteten und auf Anforderung der Politabteilung der Roten Armee zu ihrer Arbeit an die bedeutsamen Kriegsschauplätze geschickt wurden. Sein Auftraggeber war die Fotochronika TASS, für die er bereits vor dem Krieg und auch nach Kriegsende arbeitete. Als er im Juni 1941 mit dem ersten Auftrag an die Nordfront nach Murmansk geschickt wurde, forderte er 100 Meter Filmmaterial. 30 Meter wurden ihm gegeben, denn der Krieg würde ja nicht so lange dauern. In den folgenden vier Jahren fotografierte Chaldej im Norden, vor Moskau, bei Rostow, Kursk und Odessa, in Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, Österreich und schließlich in Berlin.

Alle diese Kriegsreporter waren erfahrene Fotojournalisten, die ihr Handwerk, ihre Kunst, in den 1920er und 1930er Jahren entwickelt und erprobt hatten. Die neue Fotoästhetik der 1920er Jahre, die in Analogie zur Auflösung des Objekts in der Malerei den Charakter ihres Objekts nicht mehr in der frontalen Konfrontation, sondern in Ausschnitten und neuen Perspektiven erfassen wollte, hatte in der Sowjetunion wesentlich die fotografische Praxis geprägt, wurde doch gerade die Fotografie als wesentliches Element des radikalen gesellschaftlichen Umbruchs begriffen. Die Fotografie sollte sich als Kunst des Industriezeitalters mit revolutionärer Ästhetik in der revolutionierten Gesellschaft engagieren. Der experimentierende Künstler und der Bildjournalist waren meist identisch wie die Arbeiten von Boris Ignatowitschs und Arkadij Schajchet zeigen. Aus diesem Aufbruch der 1920er Jahre wuchs in den 1930er Jahren kontinuierlich eine neue Generation von journalistisch arbeitenden Fotografen heran, die sich trotz der Restriktionen der Partei gegen Formalismus auf der einen und Naturalismus (wie etwa das Loch im Pullover des Bestarbeiters) auf der anderen Seite wesentliche Elemente der neu entwickelten Bildsprache bewahren konnte. Dazu zählten etwa in der ersten Hälfte der 1930er Jahre Iwan Schagin, Georgi Selma und Georgi Petrusow, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre Michail Sawin, Dmitri Baltermanz und Jewgeni Chaldej. Ihnen allen gelang nach intensiver Lehrzeit der Sprung aus der Provinz zu einer Zentralpublikation in Moskau.

Jewgeni Chaldej gelang dieser Schritt im Jahr 1936. Geboren 1917 in einer gläubigen jüdischen Familie im ukrainischen Jusowka am Donez (1924-1961: Stalino, seitdem Donezk) hatte er sich den Umgang mit dem Fotoapparat ohne formale Ausbildung selbst beigebracht (die erste Kamera war ein Eigenbau). In der Fabrik, in der er seit 1930 arbeitete, porträtierte er die Bestarbeiter, 1932 fuhr er als Fotograf mit einer Agitationsbrigade durch das Gebiet von Stalino und wurde mit dem massenhaften Hungertod in Folge der Zwangskollektivierung konfrontiert. Nach Anstellungen bei Regionalzeitungen wurde er 1936 nach Moskau zu einem Kurs der Sojusfoto-Agentur delegiert, wo ihm die Qualität seiner Arbeiten eine Anstellung bei der Nachrichtenagentur TASS verschaffte.

Die Arbeit bei TASS nahm er auch wieder nach dem Ende des Krieges auf, wurde aber 1948 entlassen, ohne eine neue Anstellung zu finden. Die spätstalinistische Verfolgungswelle gegen den Kosmopolitismus fokussierte sich in diesen Jahren immer stärker auf die jüdischen Bürger. Der Tod Stalins im Jahr 1953 verhinderte zwar den Übergang von der Diskriminierung zum offenen Terror, und Chaldej fand nach einiger Zeit auch wieder angemessene Anstellungen bei der Parteizeitung Prawda und der Zeitschrift Sowjetskaja Kultura, aber diese Erfahrung war ein scharfer Einschnitt in seinem Leben - vielleicht schärfer als die Jahre des Krieges. Stand doch am Anfang seiner Lebensgeschichte der Tod der Mutter, die 1918 in einem Pogrom antibolschewistischer weißer Truppen ermordet worden war. Für ihn wie für viele jüdische Bürger gab es angesichts derartiger Erfahrungen kaum eine Alternative zur Sowjetmacht, zumal sie Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten bot, die das zaristische Russland den Juden verweigert hatte. Und im Krieg waren Jewgeni Chaldejs Vater und seine Schwestern unter den zwei Millionen sowjetischen Juden, die von den deutschen Einsatzgruppen ermordet wurden. Seine Fotos aus Berlin zeigen - nicht nur in der Ikone der Roten Fahne auf dem Reichstag -, dass der sowjetische Sieg auch Chaldejs ganz persönlicher Sieg war. Umso tiefer musste ihn, den Fotografen im Zentrum der politischen Macht, die eindeutig antisemitisch motivierte Diskriminierung der Nachkriegsjahre getroffen haben.
Jewgeni Chaldej hat nach dem Krieg noch etliche Jahrzehnte fotografiert, bis seine Augen die Arbeit mit der Kamera nicht mehr zuließen. Diese umfangreichen Arbeiten der Nachkriegszeit stehen im Schatten der Kriegsfotos und sind noch zu entdecken, denn sie waren gewiss mehr als sozialistische Aufbau- und Fortschrittspropaganda. Aber auch dann wird der Schwerpunkt seines Werkes bei den Fotos der vier Jahre 1941-1945 zu finden sein, das liegt einfach am Gegenstand.

Eine große Zahl dieser Kriegsfotos sind Bilder von Helden und Heldentaten, von Paraden und Triumphen, großartige Bilder, die trotz der propagandistischen Eindeutigkeit der Aussage noch Personen erkennen lassen und nicht in Klischees abrutschen. Aber eindrücklicher sind die Fotos, die die andere, die Schreckensseite des Krieges zeigen, und vor allem die Fotos der Mehrdeutigkeit, in denen die Kontraste aufeinander treffen: die Moskauer, die nicht heroisch, sondern ängstlich auf die Lautsprechermeldung vom deutschen Überfall reagieren - das Idyll der Sonnenbadenden mit Schirmchen vor der Kulisse des zerstörten Sewastopol - die ratlosen alten Frauen, die im Mai 1945 an der Berliner Yorckstraße den sowjetischen Panzern begegnen. Zu den berührendsten Fotos zählt wohl die Aufnahme eines Paares am Rande der Siegesparade auf dem Roten Platz im Juni 1945: eine schmale Frau im einfachen Mantel an der Seite eines hochdekorierten Stabsoffiziers in Paradeuniform - eines einbeinigen Invaliden auf Krücken. Nie ist der Preis des Sieges so beiläufig wie sinnfällig vermittelt worden. Chaldej hat das Bild erst nach vier Jahrzehnten zur Veröffentlichung herausgegeben. Jewgeni Chaldej starb 1997 in Moskau.

Über den Autor

Peter Jahn, geb. 1941, Osteuropahistoriker, war bis 2006 Leiter des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst. Ein Schwerpunkt der Museumsarbeit war die Kriegsfotografie. Peter Jahn lebt in Berlin.

Retroperspektive Jewgeni Chaldej – Der bedeutende Augenblick

Die einen verehren ihn als russischen Robert Capa, die anderen kennen ihn nicht: den russischen Fotografen Jewgeni Chaldej (1917–1997). Seine berühmten Fotos der inszenierten Hissung der Roten Fahne auf dem Deutschen Reichstag hat jedoch fast jeder schon einmal gesehen. Die Retrospektive »Jewgeni Chaldej – Der bedeutende Augenblick« im Berliner Martin-Gropius-Bau vom 9.5. bis 28.7.08 zeigt neben den bekannten historischen Aufnahmen bisher noch nicht veröffentlichte Fotos aus dem Gesamtwerk Jewgeni Chaldejs.

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