Wilder Ausstellen. Clara oder Erwartungen an neue Formen der Literaturausstellung

Von Verena Auffermann

Clara ist ein zwölfjähriges Mädchen. Sie packt ihren Koffer für ein verlängertes Wochenende in Amsterdam. T-Shirts, Jeans, Unterwäsche, Zahnspange, rosa Converse-Stiefel, Kuscheltier, Haarbürste und vier Bücher. Wann willst Du vier Bücher lesen, wir haben ein volles Programm: Grachtenrundfahrt, van Gogh-Museum, Rijksmuseum, Amsterdam genießen. Clara guckt streng und bestimmt. Egal, ich brauche vier Bücher. Das ist zu viel, zu schwer, der Koffer ist voll. Clara sagt, ohne meine Bücher komme ich nicht mit. Ich sage, Du kannst sie niemals lesen, wir werden keine Zeit haben. Sie antwortet, das weiß ich auch, ich lese anders. Ich frage sie, was meinst Du mit anders lesen? Clara sagt, wenn mich ein Buch anödet, lese ich im nächsten und dann wieder im nächsten. Auf meinen Einwand, dann liest Du aber nie ein Buch richtig, schaut Clara mich entgeistert an. Doch, sagt sie, doch, Du verstehst wirklich nichts. Ich kenne die vier Bücher längst, habe sie oft gelesen, jetzt mische ich sie. Passt nicht immer, egal. So mache ich aus meinen ausgelesenen Büchern ungelesene Bücher. Clara triumphiert. Na, da staunst Du, sagt sie. Ich lache und antworte, Clara, wie recht Du hast, ich staune, das stimmt!

Für Claras kreative Lesepraktiken gibt es ein prägnantes Zitat: "Lesen heißt wildern." Das formulierte 1980 der französische Historiker und Jesuit Michel de Certeau. Freudig hätte dieser Herr Claras Bücherkoffer an Amsterdams Grachten entlanggezogen und mit listigem Vergnügen ihrem Viererpack seine "Kunst des Handelns" untergeschoben. Er hätte ihr gesagt, erstens, was für ein überaus intelligentes und modernes Mädchen sie ist und zweitens, dass ihr "aktives Konsumieren", ihre Marotte, aus vier Büchern mindestens ein fünftes zusammenzubasteln, die praktische Erfüllung seiner theoretischen Gedanken ist. Clara würde leicht verlegen lächeln und beobachten, wie sich der ältere fremde Herr an ihrer Seite in Rage redet. "Der Text bekommt seine Bedeutung nur durch die Leser; er verändert sich mit ihnen, verstehst Du das? Der gewohnte Wahrnehmungsraum, zum Beispiel das Lesen von der ersten bis zur letzten Seite, soll, und sei es nur als Experiment, gesprengt werden, damit die Kunst…" Clara hat eine Pizzeria entdeckt, sie hört nicht mehr, was de Certeau über die alte Welt sagt und wie man Gewohnheiten eigenwillig und produktiv verändert, damit etwas Neues und Anderes dabei herauskommt. Clara steckt sich eine Pizzaecke mit Käse und Rucola in den Mund und sagt, ohne lesen kann ich nicht leben. Michel de Certeau nickt, streicht über ihr dunkles Haar und schenkt ihr zu Belohnung ein Eis.

Michel de Certeau war ein hellsichtiger Wissenschaftler. Seine Beobachtungen sind eingetreten. Wir laden unterschiedlichste Texte auf den Screen, sehen einen Fernsehfilm oder eine Sportübertragung und studieren gleichzeitig das Endlosband mit Börsenkursen und Nachrichten. "Multitasking" gehört zu den lebensnotwendigen Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts. Im Sinne des aktiven Konsumierens ist das immer wieder totgeredete Buch, das sich nicht totreden lässt, als mediales Reservoir längst nicht ausgeschöpft.

Die Frage ist: Was sollen wir tun, um aktiven Menschen zu mehr Glück beim vielfältigen Lesen zu verhelfen? Wie findet ein gegenwartsbezogenes, durch Massenmedienkonsum gut trainiertes, aber zerstreuungsorientiertes Publikum, das zwar vieles gleichzeitig kann, oft jedoch keine Übung in Geduld und deshalb auch keine Übung im ausdauernden Lesen hat, zum Buch? Bücher kann man lesen, vorlesen, hören, diskutieren, verfilmen, Bücher kann man ausstellen. Wir sind, gegen alle Hiobsbotschaften, eine lesende Gesellschaft. Es wird mehr geschrieben als je in der Geschichte der Menschheit (SMS) und mehr gelesen (SMS und Internet) als jemals zuvor. Das sind, zugegeben, keine besonders elaborierten Texte, aber lesen muss man sie doch! Aber wie schaffen wir den Sprung von der "short message" zum big book, von der Information zur Literatur?

Was würde Clara "spannend" finden? Die Gedankenwelt eines Buchs, den historischen Kontext, die Lebenswelt des Autors oder die Materialität der Literatur? In den komplexen Geschichten, die Millionen Kinder, Jugendliche und Erwachsene in die Harry-Potter-Manie getrieben haben, wird viel verlangt. Es wimmelt vor katastrophal schwierigen Eigennamen, Bruchstücken aus Mythen, Sagen und Märchen, die von Buch zu Buch transportiert werden. Clara würde alles interessieren, die Einzelheiten der Story, das von Joanne Rowling benutzte Material, jeder Gedanke, den sich die Autorin zur Erschaffung von Harrys Welt gemacht hat. Wie Clara würden es vermutlich alle anderen in allen Altersgruppen empfinden und die Frage ignorieren, ob das "schweigende Buch", das zum Lesen und nicht zum Sehen geschrieben worden ist, seine Aura bei jeder Art des Ausstellens verliert. Clara könnte die Bedenken nicht nachvollziehen, dass große Ausstellungen die "Sitten" verderben, "warum", würde sie sagen, "und welche Sitten" und "warum Aura"?

Literaturausstellungen, wie sie durch die Literaturhäuser wandern, über Robert Walser, Arthur Schnitzler, Hannah Arendt, Martin Walser, Thomas Mann, Robert Gernhardt, sind oft gut und mit inszenatorischer Phantasie so angeboten, dass sich Werk und Lebenswelt angemessen präsentieren, ohne der Literatur das Fluidum, ohne Texten ihre Eigenheit zu nehmen. Ist doch schön, würde Clara sagen, aber zum Wildern gehört mehr. Zum Wildern gehört das Aufziehen geheimer Schubladen, die Suche nach dem Verborgenen, eine Entdeckung oder sagen wir es so: das Unvermutete, eben das 5. Buch, das aus vier Büchern entsteht. Vielleicht können Literaturausstellungen das 5. Buch zeigen?

Irgendwann vielleicht könnte eine Ausstellung über einen Schriftsteller, eine Epoche, einen literarischen Stil ein großes Publikum anziehen, weil nicht nur Personen, sondern auch Gedanken Konjunktur haben. Gedanken lassen sich "ausstellen". Das beste Beispiel war die 1985 im Centre Pompidou von Jean-François Lyotard kuratierte Ausstellung Les Immatériaux. Lyotard wollte das Publikum für das digitale Zeitalter sensibilisieren und zeigen, was wir und was die Objekte sind, die uns in der Welt der neuen Kommunikationsformen umgeben. Könnte eine derart zeitgerechte "Gedanken-Ausstellung" Literatur erschließen? Schriftsteller, Dichter, Denker und der eventsüchtige Konsument passen gar nicht so schlecht zueinander. Die einen sind Zulieferer für die anderen, sie sind, auch wenn sie das abstreiten, Dienstleister für Geist und Seele. Die Schrift ist starr, die Gedanken, die von der Schrift transportiert werden, sind es nicht. Um einen Gedanken bildhaft zu machen, muss, ohne den Kern zu verfehlen oder einen Überdruss an Sinn zu riskieren, das Beispielhafte illustriert werden. Man kann Bettine von Arnim oder Kafka, Musil oder Gottfried Benn besser verstehen, wenn die Verfasstheit ihrer Zeit angeleuchtet ist. Man kann die Romantiker besser verstehen, wenn wir uns ein Bild von der Epoche machen können, in der sie lebten.

Jahrzehnte wurden das schöne Buch, die schöne Schrift oder die schöne Illustration in Vitrinen verstaut und das Publikum in eine Beugehaltung, Kopf nach unten, Rücken rund, gezwungen. Dabei ist bekannt, dass nach einer halben Stunde die erste Müdigkeit einsetzt, weil unser Gegenwartsgedächtnis lächerliche zehn Sekunden umfasst. Wir wissen auch, dass Leser beim Lesen einnicken, und der Autor, der keine Bett-, sondern eine Wachlektüre verfasst hat, tröstet sich mit dem Gedanken, dass sein Stoff in die Träume mitgenommen wird und sich dort frei entfaltet. Wildern ist erwünscht und erlaubt, jeder Leser, der im Kopf sein eigenes Buch schreibt, wildert. Er modifiziert den Text durch seine eigene Person, sein Vorwissen, seine Vorannahmen, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Vielleicht fischt er sich auch nur ein paar Signifikanten aus dem Textkörper und ergänzt damit sein Vorstellungsrepertoire. Literatur bildet die Wirklichkeit in den seltensten Fällen mimetisch ab. Literatur kann man nur umkreisen, sie ist die Mitte, das unzerstörbare Kunstwerk, um das man sich keine Sorgen machen muss.

Oft geschieht auf dem Buchmarkt das Unerwartete. Niemand konnte ahnen, dass ein Roman über den knorzigen Mathematiker Gauß, der Generationen von Gymnasiasten an den Rand der Verzweiflung trieb, und den fanatischen Weltentdecker Alexander von Humboldt eine Millionenauflage erreichen würde. Der Erfolg von Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" zeigt, dass Wissensdrang und Wissensvergnügen weit größer sind, als sich die traditionell negativen Bildungsexperten zu denken erlauben. "Lieber Leser", rief Italo Calvino vor mehr als vierzig Jahren seinem Publikum zu. Also, liebe Leser, wie geht das Spiel im multimedial hochgereizten und geduldarmen Jahrhundert weiter, wie könnte es gelingen, die flirrende Neugier zwischen Text und Person, Leben und Werk, zwischen den Literatur gewordenen Geschichten und den Empfindungen für Leser und Autor produktiv zu machen?
Da steht, das ist die einfachste und älteste Variante, das Dichterhaus als mehr oder weniger authentischer Ort. Ein heterogenes Publikum rutscht in Filzpantoffeln über die gleichen (oder ähnliche Fußböden) wie der Autor, der darin wohnte. Schlaf- und Arbeitszimmer, Küchen und Gärten werden bestaunt, Goethes Frankfurter Elternhaus oder sein Weimarer Sterbezimmer, Schillers kleines Geburtshaus in Marbach, überall Reliquien. Ach so klein, so groß, so arm, so reich. Die Verknüpfung von Biographie, Literatur und Ort holt den toten Genius als Lebewesen mit Hunger und Durst, Bett und Stuhl zu uns heran. Jeder Besucher eines Dichterhauses, in Calw bei Hermann Hesse, in Lübeck bei Thomas Mann, in Rheinsberg bei Kurt Tucholsky, bei Gerhart Hauptmann auf Hiddensee, Bertolt Brecht in Augsburg, Berlin und Buckow, genießt bewusst oder unbewusst das Gefühl der Indiskretion. Der Tisch ist nicht für uns gedeckt, der "liebe Leser" hat sich ungebeten selbst eingeladen und dafür Eintritt bezahlt und ist in der musealen Privatheit gefangen, in der Spiegelung des Biographischen im Literarischen. Spuren, Sätze, Blicke aus der Lektüre werden wiedererkennbar, Federkiel, Schreibmaschine, Reisekoffer und Manuskriptseiten betrachtet und kommentiert. Bertolt Brecht befahl, dass nach seinem Tod alles von ihm, einschließlich seines Autos im Berliner Schiffbauerdammkanal versenkt werden sollte. Das hat man natürlich nicht getan, aber doch seinen Wunsch in Maßen respektiert. Es entstand in der Chaußeestraße 125 kein Brecht-Museum, sondern ein Brecht-Archiv.

Und wie steht es mit den Literaturausstellungen jenseits der Memorial-Stätten, warum ist es wichtig, neue Wege zu suchen und nicht alles an das Internet zur freien Verfügung weiterzuleiten? Sagen wir es einmal so: Ein enormes Kapital wird verschenkt, Themen, Inhalte, Zeitgeschichte lagern im Steinbruch des schriftstellerischen Universums. Kontinente des Erkennens und Wiedererkennens und des Angebots zur Selbstreflexion. Man kann heute das Buch eines Popautors in ein Werbevideo integrieren, den Roman eines Klassikers mit Fotos aus der heutigen Welt vermischen, Kutsche gegen Smart, Kaiserwalzer im Schloss gegen Disco und DJ, die strategische Aufstellung einer Fußballmannschaft, Mann gegen Mann, gegen die strategischen Schlachtenbeschreibungen in Tolstois Krieg und Frieden. Oder Lessings Locke neben eine ungefärbte von Gerhard Schröders Haupthaar. Niemand wird mit aufdringlichen Lernanmutungen behelligt, Vergangenheit und Gegenwart verzahnen sich, und der Mensch, der so gerne sagt, "was geht mich das an", merkt plötzlich, dass es ihn doch etwas angeht.

Der routinierte Zeitgenosse bahnt sich selbst den Pfad durch die Bilderfluten zwischen Neugier und Zerstreuung, Ernst und Wissensvermittlung. Vieles soll möglichst vielen Schichten sichtbar und zugänglich gemacht werden. Clara an Epochensprünge durch ihre Leseerfahrung gewöhnt, findet es "total o. k.", dass Schriftsteller die Wirklichkeit verdrehen, verzaubern, verändern. Die aktive Leserin Clara würde das Harry-Potter-Syndrom gegen das Alice-im-Wunderland-Syndrom austauschen, durch das Eintrittsportal in die Literatur treten, neue Wahrnehmungsräume für sich entdecken und im Idealfall Glücksmomente größter Intensität erleben. Thomas Mann hat es einfach und apodiktisch streng zusammengefasst: "Nur wer liest, der sieht." Der Satz lässt sich umdrehen: Nur wer sieht, der liest. Lesegewohnheiten richten sich nach den Lebensgewohnheiten, jede Generation liest und sieht anderes. Das "verschwiegene Buch" will nicht verschweigen, es will neu gelesen und gedacht, gesehen, ausgestellt und erkannt werden.

Über die Autorin

Verena Auffermann studierte nach einer Buchhandelslehre Kunstgeschichte. Als Journalistin und Literarturkritikerin schreibt sie unter anderem für Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und Literaturen. Von 1991 bis 1996 war sie Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und lehrte von 1997 bis 2002 als Dozentin im Studiengang “Buch- und Medienpraxis“ an der Universität Frankfurt am Main. 2000 bis 2003 gab sie die Anthologie Beste deutsche Erzähler in der Deutschen Verlags-Anstalt heraus. Neben Jurytätigkeit und Mitarbeit beim Deutschlandradio, Köln und Berlin, arbeitet sie heute als Autorin und Herausgeberin.

Internationale Literaturausstellungen in Theorie und Praxis

Literaturausstellungen kommt eine wachsende Bedeutung in der Vermittlung von Literatur zu. Doch wie sieht eine gute Literaturausstellung aus, die ganz unterschiedliche Zielgruppen (Lebensalter, Bildung) anspricht? Wie gelingt der Sprung von der Schriftform in eine anregende visuelle Präsentation? Diese Frage untersucht das Goethe-Haus gemeinsam mit dem Kulturamt Frankfurt am Main mit einer Expertentagung und einem Workshop. Eine Meta-Ausstellung über das Ausstellen von Literatur soll im Rahmen von Ruhr.2010 entstehen.

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