Wie würde eine globale Moderne aussehen?

Ein Text von Okwui Enwezor, Katy Siegel und Ulrich Wilmes

Wie wohl keine Ausstellung zuvor in Deutschland unternimmt die Ausstellung „Postwar: Kunst zwischen dem Pazifik und Atlantik, 1945–1965“ den Versuch, die eurozentrische bzw.  westliche Perspektive zu überwinden, indem sie die zunehmend ineinandergreifende und voneinander abhängige Welt als ein globales Beziehungsgeflecht aus dem Blickwinkel der Kunst der Nachkriegszeit beschreibt.

Wir veröffentlichen eine gekürzte Fassung des Ausstellungskonzepts der Kurator/innen Okwui Enwezor, Katy Siegel, Ulrich Wilmes: ein essayistischer Überblick über die globalen Konstellationen und Entwicklungslinien in der Kunst der „Postwar“-Ära. Den vollständigen Text mit vielen Künstlerbeispielen sowie einer konkreteren Beschreibung der acht Abteilungen der Ausstellung finden Sie unter www.hausderkunst.de (externer Link, öffnet neues Fenster).

Die unmittelbar auf das Ende des Zweiten Weltkriegs folgenden Jahre, die in Europa den entscheidenden Sieg über Deutschland und in Asien den über Japan beschreiben, markierten einen Wendepunkt in der Weltgeschichte. Die Katastrophe und das Chaos, die der Krieg verursacht hatte –mit der Zerstörung ganzer Städte und Länder, Zigmillionen Getöteter und einer massiven Flüchtlingskrise, ausgelöst durch das Schicksal von Millionen staatenloser Menschen – breiteten sich aus vor den Hintergrund des ersten Einsatzes der Atombombe und dem gesamten Grauen der Konzentrationslager. Die moralischen und technologischen Vermächtnisse von Hiroshima und Auschwitz wurden zum Symbol für die Krise des Humanismus.

Im Bereich der Kunst markiert die Nachkriegszeit einen besonderen historischen und kulturellen Wendepunkt, denn sie führte zur schwindenden Dominanz westeuropäischer Kunsthauptstädte und zum Aufstieg der internationalen Präsenz und Vormachtstellung der zeitgenössischen amerikanischen Kunst, der Populärkultur und der Massenmedien. Diese Verlagerung spiegelte in der Tat die veränderten Bedingungen der geopolitischen Machtverhältnisse, in denen das besiegte Europa sich neue Förderer und Beschützer erwarb und sich ihnen fügte. Während der Kalte Krieg den Kontinent in zwei getrennte Einfluss-Sphären teilte – in die Länder des Warschauer Paktes in Ost- und Mitteleuropa, die mit der Sowjetunion alliiert waren, und in die mit den Vereinigten Staaten von Amerika verbündeten westeuropäischen Staaten der NATO, der North Atlantic Treaty Organization –, offenbarte auch der Zustand der Künste eine klare ideologische Verwerfung: zwischen Kommunismus und kapitalistischer Demokratie, „Sozialismus und freiheitlicher Demokratie“.

Durchdrungen war diese vereinfachende Zweiteilung, die komplexere künstlerische Motivationen verschleierte, von der den Begriffen Abstraktion und Sozialistischer Realismus jeweils zugeschriebenen ideologischen und künstlerischen Logik, wobei die beiden Begriffe im Wettstreit einer erneuerten Sicht der Kunst nach dem Krieg zu moralischen Äquivalenten wurden. Dieselben Einfluss-Sphären teilten auch den Pazifik zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion wieder in zwei unbeugsame Konkurrenten. Im globalen Maßstab jedoch erschwerten Kämpfe gegen den Kolonialismus, Unabhängigkeitsbewegungen und der Widerstand gegen die Kolonialmächte in Afrika, Asien und dem Mittleren Osten diese Zweiteilung, selbst als die Machtblöcke des Kalten Krieges die neuen Nationen umwarben und unter ihre jeweilige Kontrolle zu bringen versuchten. Diese zunehmend unabhängiger werdenden Akteure schlugen im Gefolge von Imperialismus und Krieg ziemlich andere Ausrichtungen und Allianzen vor – einschließlich einer Panafrikanischen Union und blockfreier Staaten. Die Frage, die man sich überall stellte, war: Wie würde eine globale Moderne aussehen?

Wenn wir die Kartografien der Nachkriegsmoderne neu aufstellen müssen, welche Methoden könnten wir einsetzen? In welchem Ausmaß übte das Politische Druck auf das Ästhetische, das Kulturelle auf das Künstlerische aus? Und umgekehrt: Wie verhandelten, widerstanden oder untergruben Künstler, Kritiker und Intellektuelle politische Ideologien? Wie wurden künstlerische Praxis und ästhetischer Rahmen in verstreuten politischen und kulturellen Kontexten rekonstruiert? Und welche Auswirkungen hatten umgekehrt intellektuelle Bewegungen aus den früheren kolonialen Randgebieten auf die Terrains der Moderne? Wie also hat der Kreislauf von Kunst, Objekten, Diskursen und Ideen die globalen Konturen der Nachkriegsmoderne geformt? Welche Verbindungen – falls überhaupt – bestanden in der Nachkriegswelt zwischen Form und Kontext?

Die Nachkriegsära wird eingeleitet durch das Bild der Bombe – eine Technologie, die in eine Ära ineinander verflochtener Anfänge und Enden, Versprechen und Apokalypsen führte. Während die aus derselben Zeit stammenden Bilder der Konzentrationslager dem europäischen Streben nach moralischer Universalgültigkeit ein Ende setzten, signalisierten die Bombe und die Verwüstung von Hiroshima und Nagasaki das Ende der politischen Macht Europas in der ganzen Welt und den Beginn einer Ära amerikanischer Militärdominanz, die wiederum, frisch nach dem Krieg, ein neues Wettrüsten in Gang setzte. Während das Kriegsende in Japan eine Zeit der Besatzung ankündigte, führte es auch in eine Ära der Befreiungs- und Unabhängigkeitskämpfe in Afrika, Asien, im Mittleren Osten und anderswo. In seiner internationalen Allgegenwärtigkeit als Bild und in seiner Bedrohung für die ganze Welt half die Atompilzwolke ein neues Bewusstsein vom Erdball als eine einzigartige, in sich geschlossene Einheit zu schaffen sowie ein neues Gefühl für Maßstab durch das aus der Militärtechnologie erwachsene Raumfahrtprogramm, das Bilder der Erde lieferte, die dieses Gefühl der globalen Einheit und des Miteinander-verbunden-Seins noch verstärkte.

Der amerikanische Einsatz der Bombe stand für Amerikas militärische und ökonomische Dominanz und inszenierte diese; US-Künstler wie Norman Lewis oder das italienische Movimento Arte Nucleare in den Werken „Every Atom Glows: Electrons in Luminous Vibration“ (1951) und „Nuclear Explosion“ (1951) waren angesichts der wunderbaren Naturoffenbarungen der Bombe erregt und standen ehrfürchtig vor der Kraft biblischen Ausmaßes, auch wenn sie den bedauernden Einlassungen der US-Regierung über den Einsatz gegenüber skeptisch waren. Offensichtlich war die Bombe auch eine japanische Geschichte, die von Fotografien (viele davon erst später veröffentlicht) und von Künstlern wie Iri und Toshi Maruki erzählt wurde, die nur drei Tage nach der Bombardierung nach Hiroshima zurückkehrten und beschlossen, mit einem ehrgeizigen Bilderzyklus, den „Hiroshima Tafeln“ (1950–1982) zu beginnen, der das Leiden beschreiben sollte, das sie dort sahen. Infolge der Technikverehrung durch die Futuristen konzentrierten sich auch italienische Künstler ziemlich stark auf die Bombe. 1952 malte Enrico Baj das „Manifesto Bum“ (das „Boom Manifest“), ein Kopf in der Form einer schwarzen Pilzwolke vor einem giftgelben Hintergrund, mit Anti-Atom-Slogans und Formeln überschrieben: „Die Köpfe der Menschen sind mit Sprengstoff geladen / jedes Atom explodiert.“

Fotografien und Filme von zerstörten Städten und von Überlebenden der Konzentrationslager wurden unmittelbar nach dem Krieg veröffentlicht. Der Schock, den diese Bilder hervorriefen, das volle Erkennen des Maßstabs und des Ausmaßes des Schreckens der Lager löste Kunstwerke aus, darunter Andrzej Wróblewskis „Rozstrzelanie z gestapowcem (Rozstrzelanie IV)“ (1949), Gerhard Richters „Atlas“ (1962–heute) und Wolf Vostells Zyklus „German Views from the Black Room“ (1958–63).

Hiroshima und Auschwitz legten das Versagen der westlichen Zivilisation offen. Im Kielwasser dieser Schocks gab es ambivalente politische Versuche, gerechtere geopolitische Systeme zu finden durch neue Rechtsformen wie die Vereinten Nationen und die Menschenrechtserklärung von 1948, die vermeintlich allgemeingültig war, jedoch vom westlichen Einfluss dominiert wurde, oder die Kämpfe für volle Bürgerrechte und die Autonomie der Völker in den ehemaligen europäischen Kolonien. Philosophen und Künstler versuchten, die menschliche Natur selbst tiefer zu erforschen in Debatten, zu denen auch Diskurse über Negritude und Existenzialismus gehörten sowie die Rechte von Einzelnen und Gruppen innerhalb größerer (oft unterdrückender) sozialer und politischer Einheiten.

Diese Künstler kombinierten häufig bewusst Figuration und materiellen Aufbau, weigerten sich, zwischen Abstraktion und Darstellung zu wählen – oder zwischen physischem und sozialem Leben –, da sie das Binäre nicht nur als ideologisch falsch, sondern auch als zutiefst zerstörerisch betrachteten. Bei einer Nachkriegskunst-Konferenz in Darmstadt fanden die politischen Gegner Hans Sedlmayr und Theodor W. Adorno eine erstaunliche gemeinsame Basis in ihrem Beklagen eines fehlenden Zentrums einer zeitgenössischen Kultur, da die zeitgenössische Kunst nicht in der Lage schien, sich an fundamentale menschliche Anliegen einschließlich Emotion und Alltagsleben zu richten. Dieses Anliegen fand sich auch bei Ostdeutschen Migranten wie zum Beispiel Georg Baselitz, der die politisch aufgeladene Wahl zwischen Abstraktion und Sozialistischem Realismus umging und deformierte, aber überaus lebendige individuelle Figuren darstellte. Der Theologe Paul Tillich führte in die MoMA-Ausstellung „New Images of Man“ ein, die Bilder von Künstlern wie Francis Bacon und Alberto Giacometti zusammenbrachte, und warnte gleichermaßen vor „der Gefahr, in der der moderne Mensch lebt: der Gefahr, seine Menschlichkeit zu verlieren“, einer Gefahr, die sowohl im Totalitarismus als auch in der Technologie-orientierten Massengesellschaft angesiedelt sei.

Die wichtigste Gegenkraft zum universalistischen westlichen Humanismus kam in unterschiedlichen Strömungen aus ehemaligen europäischen Kolonien. Leopold Senghor schrieb 1961 von der Notwendigkeit, das menschliche Wesen zu spezifizieren und aufzuspüren, und zwar im Gegensatz nicht nur zum modernen (westlichen), sondern auch zum marxistischen Universalismus: „Der Mensch ist nicht ohne Heimatland. Er ist nicht ein Mensch ohne Hautfarbe oder Geschichte oder Staat oder Zivilisation. Er ist ein westafrikanischer Mensch, uns Nachbar, der durch seine Zeit und seinen Ort präzise bestimmt ist … ein Mensch, der Jahrhunderte lang gedemütigt wurde, und das vielleicht weniger wegen seines Hungers und seiner Nacktheit, sondern wegen seiner Farbe und seiner Kultur, in seiner Würde als leibhaftiger Mensch.“ Die von Künstlern wie Hamed Owais und Inji Efflatoun gemalten schwer arbeitenden Körper drücken diese spezifische Würde aus.

Manchmal, wie in Franz Fanons „Neuem Menschen“, beanspruchten die ehemals Kolonialisierten ein moralisches Recht, Humanismus weitreichend und universell zu definieren, ein Recht, das der Westen mit seinem inhumanen Verhalten im Krieg und bei der Kolonisation verwirkt hatte. Diesen neuen Humanismus erkennen wir zum Beispiel in den Denkern, die der indische Künstler Francis Newton Souza darstellt – farbige Körper, die sich das traditionelle intellektuelle und ethische Vorrecht des westlichen Menschen aneignen.

Die andere Hälfte der Binarität des Kalten Krieges ist natürlich der Sozialistische Realismus der sowjetischen, chinesischen, ost- und mitteleuropäischen Kunst. Hier fand in einem größeren Ausmaß die institutionelle Aneignung vor – und nicht nach – der Herstellung statt, aber gleichwohl können auch Berichte über diese Kategorie übermäßig starr sein. Selbst in der Blütezeit seiner Erzwingung war der Sozialistische Realismus kein einheitlicher Stil. Unter Mao produzierten chinesische Künstler große offizielle Porträts des Vorsitzenden (Jia Youfu, „Marching Across the Snow-Covered Mount Minshan“, 1965) und vorbildlicher Arbeiter, aber es gab auch eine gewisse Toleranz gegenüber traditioneller Tuschemalerei, bei Hinzufügung passender Symbole der neuen Ordnung wie der roten Fahne. In der Sowjetunion zeichnet sich die Kunst von den 1940er Jahren bis zu Stalins Tod in erster Linie durch zustimmende Darstellungen der Arbeit und vor allem durch heroische Bilder der Parteiführer aus (Wassilij Jakowlew, Porträt von Georgii Zhukov, Marschall der Sowjetunion, 1946). Während des nach Stalin einsetzenden politischen Tauwetters wurden die von den Russischen Wanderern des 19. Jahrhunderts beeinflusste Genremalerei wie auch der von der sowjetischen Kunst der 1920er und frühen 1930er Jahre beeinflusste „Strenge Stil“ bekannter. Außerhalb der UdSSR gab es beträchtlich mehr Spielraum für Künstler, die im offiziellen Sozialistischen Realismus arbeiteten, und Maler wie der in Litauen geborene und später in Krakau lebende Andrzej Wróblewski schufen Werke, die zwar offiziell gebilligte Themen darstellten, gleichzeitig aber einen persönlichen Zeichenstil und surrealistische Elemente einführten.

Während der internationale abstrakte Stil, der die Nachkriegswelt dominierte, in erster Linie materialistisch und gestisch war, blieb weltweit auch die geometrische Abstraktion der Vorkriegszeit bestehen, wenn auch mit einem Impetus, der sich von dem der europäischen Vorkriegskünstler ziemlich unterschied. Die Neokonkrete Kunst in Südamerika war durch Max Bills ersten Besuch in Argentinien und seine Teilnahme an der ersten Biennale São Paulo 1951 genetisch mit der europäischen Konkreten Kunst verwandt. Aber sie hatte auch lokale Wurzeln wie den Vitalismus eines Joaquim Torres Garcia, den sie mit der europäischen Moderne vereinte, und wurde zu einem völlig eigenständigen Phänomen, das den individuellen Betrachter als Teilnehmer einbezog und weit über die Formen von Malerei und Skulptur hinausging. Parallel entwickelte sich ein nationalistischer Stil, der sich nicht gegen den westlichen Kapitalismus stellte, sondern mit diesem in Wettbewerb trat.

Infolge der massiven Umwälzungen des Zweiten Weltkriegs verschoben sich die Begriffe eines Kosmopolitentums radikal. Die Menschen waren in Bewegung. Riesige Bevölkerungsgruppen (Flüchtlinge, Staatenlose, zerstreute Minderheiten usw.) bewegten sich von einem Ort zum anderen, hin und her zwischen Kontinenten, Ländern und Städten, bildeten verstreute Linien von Vertreibung, Migration, Exil, Verbundenheit, Ansiedlungen. In seinem Aufsatz „Reflections on Exile“ (Betrachtungen über das Exil) berührt Edward Said das Dilemma des Exils und stellt fest, dass das „Exil auf merkwürdige Art zwingt, darüber nachzudenken, aber schrecklich zu erleben“ ist. Die feindselige Politik und die eingeschränkten Möglichkeiten in ihrer Heimat hatten afroamerikanische Schriftsteller und Künstler wie James Baldwin und Beauford Delaney dazu getrieben, nach Paris als einem Ort kosmopolitischer Zuflucht zu emigrieren.

Für Mark Tobey waren China und Japan Orte der Befreiung, wenn auch auf ziemlich andere Art. Wenn wir also an Kosmopolitanismus denken, sollten wir ihn uns zusätzlich innerhalb von Prozessen der Veränderung, des Umbruchs, der Gelegenheiten, der Fantasie und als eine Form der Kulturen überkreuzenden und transnationalen künstlerischen Selbstgestaltung vorstellen.

„Neue Kreuzformen“, wie Wissenschaftler sie nannten, tauchten in der Moderne und in der zeitgenössischen Kunst auf, als Bürger aus Kolonien und ehemaligen Kolonien offiziell und inoffiziell im Westen studierten oder als Flüchtlinge vor Unterdrückung und Rassismus aus ihren Heimatländern flohen, um anderswo einen Ort zum Leben zu finden. Der Zweite Weltkrieg war vielleicht für eine der größten und umfassendsten kulturellen und künstlerischen Migrationsbewegungen verantwortlich. Wir können an die Nachkriegskunst also in neukombinierten Begriffen denken, als einen Prozess sowohl der Gewöhnung an als auch der Entwöhnung von einer Kultur, durch die Künstler den internationalen Stil der Abstraktion mit indigenen, traditionellen oder lokalen Bildwelten verbanden und zu einer neuen ästhetischen Logik und neuen formalen Konzepten verschmolzen. Kategorien wie das Lokale, Tradition, Nationalität, Autonomie, das Universelle usw. kollidieren und verbinden sich, um neue Bedeutungen zu schaffen.

Verwandte Diaspora-Situationen und die verschiedenen kolonialen Vermächtnisse wie auch Rücklagen für Austauschzwecke im Kalten Krieg schickten Künstler in die ganze Welt, um in Zentren moderner Kunstproduktion zu studieren und am dortigen Kunstmarkt teilzunehmen. Auch Zeitschriften wie beispielsweise Black Orpheus sind während der gesamten Nachkriegszeit wichtig als Quelle virtueller Reisen und Schnittpunkte. Das legt nahe, dass wir nicht nur an Diaspora und Exil denken sollten, sondern auch an bewusst gewählte Geistesverwandtschaften. Wie würde sich unser Bild eines Kosmopolitentums verändern, wenn es sich nicht am nachklingenden Ende kolonialistischer Beziehungen sondern an einer dialektischen Beziehung zum Nationalismus orientieren würde?

Nationalismus ist eines der Schlüsselwörter in der ständigen Bewegung während der Nachkriegszeit. Benedict Anderson benutzt die Idee der „gedachten Gemeinschaft“, um die sich wandelnden Gedankenströmungen von Nation und Nationalismus zu beschreiben. In seiner bahnbrechenden Studie zu Nationen und Nationalismus bietet er entscheidende Einsichten, wenn er uns auffordert, über „die politische Kraft von Nationalismen im Gegensatz zu ihrer philosophischen Armut und sogar Zusammenhanglosigkeit“ nachzudenken.

Künstler in den Vereinigten Staaten und Europa lehnten es häufig ab, sich ihren nationalen Regierungen, die sich als korrupt und militaristisch erwiesen hatten, anzuschließen. In Ländern, die erst vor kurzer Zeit um ihre Unabhängigkeit gekämpft und sie erlangt hatten, hatte Nationalismus eine andere Wertigkeit, und so suchten Künstler im Irak, in Kuba, China, Indien und Pakistan, Israel, Indonesien, Thailand, den Philippinen, Nigeria, dem Senegal und Südafrika nach kulturellen Formen, um eine neue nationale Identität zu artikulieren.

Nigerianische Künstler zum Beispiel engagierten sich in Institutionen und in der Regierung, indem sie sich persönlich für nationale Unabhängigkeit und die Rolle der Kultur bei der Errichtung einer nationalen Identität engagierten. Ben Enwonwu und Uzo Egonu stellten in einer Art Kritik an der europäischen Aneignung dieser Bildwelten afrikanische Masken und Instrumente dar. In Ägypten schilderte Gazbia Sirry das Martyrium ägyptischer Menschen in den Händen der britischen Besatzer, wobei er die ägyptischen Bedingungen auch mit der Unterdrückung der Afroamerikaner verknüpfte (deren Bürgerrechtsbewegung, von der die Arbeit von Jack Whitten und anderen durchdrungen war, eine nationalistische Färbung annehmen konnte).

Man kämpfte um die Definition dessen, was an der Identität wahrhaft national war, zum Beispiel in der Debatte zwischen jenen, die im gleichzeitigen Streben nach Unabhängigkeit und Modernität das Ablegen kultureller Traditionen vertraten, und jenen, die die indigene Identität als zentral für die nationale Identität betrachteten. In Südostasien beschrieb man die Wahl als eine zwischen Ost und West, wobei „der Westen“ für Europa, Zukunft, Bildung und technischen Fortschritt stand und „der Osten“ für indigenes Wissen und nicht-westliche Identität, Vergangenheit und Tradition.

An ihrem Ende verschiebt die Ausstellung „Postwar“ das Verständnis einer mit der Massenkultur beschäftigten Kunst weg vom üblichen Fokus auf Konsumgüter und die Zeichen und Logos, die für sie Werbung machten, hin zur Verteilung, Verbreitung und Kommunikation jener Zeichen über Technologie und Netzwerke. Kommunikation war zum Beispiel auch das zugrundeliegende Thema der kybernetischen Systemtheorien, die eine internationale Gruppe von Künstlern reizte, die ihre Wurzeln in verschiedenen ästhetischen und politischen Ausrichtungen hatten. Eine besondere Anziehungskraft übte sie auf Künstler aus, die über nationale Grenzen hinweg nach geistiger Verwandtschaft suchten: Die Belgrader Ausstellung „Neue Tendenzen“ von 1961 zeigte Arbeiten von 29 Künstlern aus Argentinien, Österreich, Brasilien, Frankreich, Deutschland, Italien, der Schweiz und Jugoslawien. Ziel dieser optischen und kinetischen Kunst wie zum Beispiel der von Mohammed Melehi war die Informationsvermittlung auf einer fundamentalen, physiologischen Wellenlänge, die über die kulturellen Eigenheiten von Sprache hinausging. In ähnlicher Weise brachte Kommunikation Künstler zu neuen Technologien. Die britischen Künstler der „Independent Group“, vor allem John McHale, orientierten sich an den technologischen, ja futuristischen Aspekten der populären Kultur, von Transistoren bis hin zu Robotern. Fluxus- und andere Künstler, darunter Karl Otto Götz und Nam June Paik, experimentierten mit dem neuen Medium der Fernsehübertragung in dem Streben danach, eine Kunst zu schaffen, die nicht nur am letzten Stand der technischen Entwicklung teilhatte, sondern ganz speziell auch das Potenzial hatte, mit einem Publikum zu kommunizieren, das über das in Kunstgalerien zu findende hinausreichte. All diese Künstler suchten nach einer Kunst, die einer Welt entsprach, die als einziges, in sich geschlossenes System oder als ein solcher Organismus konzipiert war.

Okwui Enwezor, Katy Siegel, Ulrich Wilmes

Okwui Enwezor ist seit Oktober 2011 Direktor des Hauses der Kunst, München. Katy Siegel lehrt Modern American Art an der Stony Brook University, New York. Ulrich Wilmes ist Hauptkurator am Haus der Kunst, München.

Postwar: Kunst zwischen Pazifik und Antlantik, 1945-1965

Das Münchner Haus der Kunst hat zusammen mit internationalen Institutionen ein Forschungs- und Ausstellungsprojekt entwickelt, das in drei Teilen – Nachkriegszeit, Postkolonialismus und Postkommunismus – untersucht, welche kulturellen Einflüsse und Vermächtnisse die Kunstproduktion auf der ganzen Welt seit 1945 geprägt haben.

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