RomArchive, das digitale Archiv der Sinti und Roma ging im Januar 2019 online. André Raatzsch (AR) und Jürgen Keiper (JK) begleiteten das Projekt von der ersten Stunde an. Denhart v. Harling (DH) sprach mit ihnen über Einzigartig- und Modellhaftigkeit des Archivs.
DH Warum ist RomArchive als Ort der Sichtbarkeit der Künste und Kulturen der Sinti und Roma so bedeutsam?
AR Mit RomArchive entsteht ein noch nie dagewesenes und für die Bekämpfung des wachsenden Antiziganismus dringend notwendiges Wissensarchiv. Für die Minderheit selbst ist dieses Archiv ein Zeichen der Wertschätzung ihrer Kultur in Deutschland und in ganz Europa und eigentlich weltweit. Nach der Anerkennung des NS-Völkermordes an 500.000 Sinti und Roma im Jahr 1982 und nach der Einweihung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas 2012, ist seine Gründung daher auch ein Zeichen für den Bewusstseinswandel in Deutschland. Hoffentlich trägt RomArchive dazu bei, im Sinne der kulturellen Teilhabe die jahrhundertealte Geschichte von Sinti und Roma auch in den Bildungsplänen und -materialien der Schulen zu verankern. Das Archiv ist ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig es ist, dass Angehörige der Minderheit in kulturpolitische Institutionen der Mehrheitsgesellschaft involviert werden.
DH RomArchive ist ein ausschließlich digitales Archiv. Was kann ein digitales Archiv besser als ein analoges?
JK Grundsätzlich sind die großen Vorteile eines digitalen Archivs der einfachere und leichtere Zugang, die bessere Erschließung und Auffindbarkeit der entsprechenden Objekte und natürlich die Möglichkeit, die jeweiligen Objekte relativ problemlos weltweit zugänglich zu machen. Digitale Objekte haben den großen Vorteil, dass sie zumindest konzeptionell unendlich lange archivierbar sind, was bei analogen Materialien nicht der Fall ist. Das setzt aber natürlich eine professionelle Langzeitarchivierung voraus. Außerdem ist im Moment der gesamte Bereich der Gedächtnisorganisation ja völlig zersplittert. Es gibt Bibliotheken, Archive, Museen und Galerien und so weiter. Diese institutionellen Grenzen kann ein digitales Archiv mit seinen spezifischen Präsentationsmöglichkeiten einfacher überwinden. Und, was im Moment noch nicht so virulent ist, aber kommen wird, ist der ganze Bereich des „Semantic Web“. Das heißt, dass man die Ressourcen von verschiedensten Archiven auf der ganzen Welt auch miteinander verknüpfen können wird.
DH Was bedeutet es denn generell, Kultur zu digitalisieren? Lässt sich das bewerten?
JK Als die ersten digitalen Reproduktionen auftauchten, hatte man große Sorge, dass das Original entwertet wird. Interessanterweise strömen die Menschen aber nach wie vor in Gemäldeausstellungen. Das ist ein schönes Beispiel für die Dialektik digitaler Prozesse. Einerseits gibt es eine Demokratisierung des Objekts durch bessere Zugänglichkeit und höhere Verbreitung, aber gleichzeitig auch den Wunsch, das Original zu sehen, zu erleben und zu erfahren. Generell ist es eine wichtige Kritik an digitalen Datenbanken, dass sie alle Objekte dieser Welt aufsaugen, nebeneinanderstellen, dann nach denselben Strukturen erschließen und dadurch auch nivellieren. Das stimmt zwar bis zu einem gewissen Grad, aber auf der anderen Seite ist natürlich entscheidend, was wir aus diesen Datenbanken machen. Das war in unserem Projekt extrem wichtig und wir haben da verschiedene Ansätze entwickelt. Objekte werden nicht einfach nur als Galerie hintereinander gezeigt, sondern es gibt spezifische, ausdifferenzierte Konzepte in der Präsentation, insbesondere über Storytelling, über Kontextualisierung, über Dekonstruktion und so weiter. Die Herausforderung ist, ausgehend vom Apparat Datenbank neue Erzählungen zu generieren, die die festen Strukturen noch einmal brechen.
DH RomArchive ist ja in vielerlei Hinsicht ein Pionierprojekt. Sowohl technologisch als auch, was die Konzeption der Inhalte angeht, wurden hier Grundlagen geschaffen. Welches sind für euch die größten Errungenschaften des Projekts?
JK Ein ganz toller Ansatz, der auf die geführten Debatten reagierte, wie wir mit antiziganistischen, mit rassistischen, generell mit problematischen Darstellungen umgehen, war eine Idee der Agenturen bildargumente und Open Video, die eine erzwungene Kontextualisierung geschaffen haben. Das Ziel der sogenannten Item Bundles war, nie ein einzelnes Objekt aus dem Zusammenhang herauszulösen, sondern immer im Kontext zu zeigen. Für mich war auch das innovative Konzept von Storytelling extrem wichtig, das die klassische Zeitstruktur der Rezeption aufbricht. Man kann die Texte von Anfang bis Ende lesen, aber man hat jederzeit die Möglichkeit, auf neue Personen oder andere Objekte zu klicken. Dieses interessegeleitete Sichverlieren in diesem Projekt, das finde ich eine ganz große Qualität: Es gibt keine vorgezeichneten Wege, es ist auf der anderen Seite aber auch nicht vollständig beliebig.
AR Aus meiner Sicht ist die größte Errungenschaft von RomArchive, dass der inhaltliche und konzeptionelle Aufbau der unterschiedlichen Archivbereiche von so vielen Kuratorinnen durchgeführt wurde, die überwiegend selbst der Minderheit angehören. Bis heute ist es leider keine Selbstverständlichkeit in der Projektarbeit, dass Sinti und Roma tatsächlich in alle bedeutenden und entscheidenden Positionen einbezogen werden. Im Laufe des Projektes wurden in den Beiratund Kuratorensitzungen immer wieder kulturpolitische Aspekte und Notwendigkeiten angesprochen. Alle Beteiligten waren sich der Herausforderung bewusst, dass RomArchive mit den langen Traditionen von ethnisierenden und rassifizierenden Archivierungs- und Darstellungspraxen brechen müsse. Von Anfang an war mein Ansatz dabei, einen kritischen Blick darauf zu werfen, wie Künste und Kulturen von Sinti und Roma gesammelt und präsentiert werden, um bei der „Darstellung der Minderheit“ nicht wieder den gängigen und tradierten Vorstellungen zu entsprechen.
DH Welche anderen konkreten Hürden galt es im Projekt RomArchive zu überwinden?
AR Eine wichtige Frage war natürlich die des Umgangs mit Materialien, die Angehörige der Minderheit stereotypisierend oder sogar auf rassistische Weise darstellen: Fotografien, Filme, Gemälde, Presseberichte oder historische Dokumente. Ich war immer dafür, auch problematische Abbildungen ins Archiv aufzunehmen, sie aber nicht ohne Kontextualisierung zu veröffentlichen. Ich wollte Filter einsetzen, nach Methoden suchen, um die Rezeption zu kontrollieren und zu beeinflussen, so dass das Betrachten dieser Bilder nicht erneut antiziganistische Denkmuster befördert. Susan Sonntag hat in ihrem Buch Über Fotografie als Beispiel für diese Kontrolle angeführt, dass Fotos auch als Film gezeigt werden können. So bestimmt der Regisseur, wie lange die Rezeption andauert und welche Bilder oder Bildausschnitte gezeigt werden. In unserem Kurzfilm Fotografie lesen steuern wir den Blick, indem wir mit der Hand ein projiziertes Bild ausblenden oder den Akzent auf bestimmte Bereiche lenken, und das Bild durch eine Off-Stimme kritisch in einen gesellschaftshistorischen Kontext setzen. Eine weitere Herausforderung waren die Diskurse seitens der Kuratoren, wie Sinti und Roma Europas für eine breite internationale Öffentlichkeit verständlich, aber dennoch in ihren komplexen kulturellen Kontexten dargestellt werden sollen. In diesem Projekt trafen ja auch viele unterschiedliche kulturelle Identitäten aufeinander. Der Tanzkurator Isaac Blake sagt zum Beispiel von sich: „I am a gipsy“. Und wir versuchen die ganze Zeit, das Wort Gipsy im Englischen überhaupt nicht als Begriff zu verwenden, weil das Wort hier in Deutschland und weiten Teilen Europas negativ zu verstehen ist. Aber das ist eben eine Selbstbezeichnung der Roma und Traveller in Großbritannien, die selbst für mich als Angehöriger der Sinti und Roma in Deutschland nicht so bekannt war. Für manche Angehörige unserer Minderheit sind auch Kopftuch und Rock eine normale Tracht und transportieren keine antiziganistischen Bilder. Das zu filtern, kritisch mitzubetrachten und zu analysieren, war extrem schwierig.
JK Diese Mehrstimmigkeit hat das Projekt ja auch an zwei Stellen des Konzeptes umgesetzt. Zum einen dadurch, dass die einzelnen Bereiche von individuellen Kuratoren betreut werden, das heißt, wir haben eine Polyphonie von Konzepten, von Ansätzen, von Positionen. Und dann gab es ja auch auf der Ebene der Schlagworte, die wir in einem Glossar erklären, die Reaktion, dass einzelne gesagt haben, diese Erklärung ist für uns nicht akzeptabel, die soll so und so lauten. Da haben wir dann eine zweite Erklärung dazugestellt. Es geht nicht darum, eine einzige Wahrheit zu definieren, sondern es stehen mehrere Positionen gleichberechtigt untereinander. Dieser Ansatz einer solchen Polyphonie von Stimmen ist ein sehr positives Element des ganzen Projektes.
DH Mit welchen Schwierigkeiten wurdet ihr im Projekt speziell bei der Digitalisierung konfrontiert?
JK Innerhalb des ganzen Prozesses des Archivaufbaus finde ich den Bereich der Inhaltserschließung am schwierigsten oder problematischsten, also die Schlagwortvergabe. Die Vergabe von Schlagworten ist immer eine Reduktion, denn man reduziert einen Komplex auf einen Begriff. Und nicht alles im Archiv ist textbasiert, wir haben es viel mit Bildern oder Filmen zu tun. Da kommen noch viel abstraktere Kategorien ins Spiel, denn wie interpretiert man überhaupt ein Bild, wie vergibt man ein Schlagwort zu einem Bild? Das hängt extrem stark von individuellen Präferenzen ab, und das macht es sehr schwierig. Die Begriffe selbst haben ja auch eine zeitliche und gesellschaftliche Dimension, das heißt, heute würde man ein und dasselbe Objekt komplett anders verschlagworten als vor 30 Jahren oder in einem anderen geografischen Raum.
AR Das stimmt, in geschlossenen Archivsystemen müssen diese Begrifflichkeiten sehr bewusst vergeben werden. Im Archiv der Arab Image Foundation, dem berühmten Projekt von Akram Zaatari und anderen, habe ich einmal den Begriff „Schal“ als Suchbegriff eingegeben. Ich erhielt ganz unterschiedliche Bilder: eins von Yassir Arafat mit Palästinensertuch, ein Bild einer Frau mit Schal, es gab auch ein Bild mit einem Hund mit Halstuch. Plötzlich löste sich hier das Konzept von einem demokratischen Archiv tatsächlich ein. Die gleichen Bilder wären unter anderen Stichworten und Kontexten ganz anders wahrgenommen worden.
JK Eine weitere Herausforderung war die Digitalisierung an sich. Aus Gesprächen wussten wir ja, dass die Objekte, mit denen wir es zu tun haben, nicht in Museen vorliegen, sondern ganz oft bei Privatpersonen. Und deswegen wurde der Bereich der Erhaltung auch immer wichtiger. Wir kennen das ja, Objekte gehen einfach kaputt, werden durch Alter und Umweltbedingungen zerstört. Und deswegen wollten wir dieses Projekt auch nutzen, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, solche Artefakte langfristig zu erhalten. Aber es gibt neben hervorragenden Digitalisierungen im Archiv natürlich auch einige, die dieser „Preservation“ nicht gerecht werden.
DH Archive, die im Aufbau sind, fragen bei RomArchive immer wieder seine Sammlungspolitik und Ethischen Richtlinien ab, um mit diesen Grundlagen weiterzuarbeiten. Da hat RomArchive offenbar wirklich Pionierarbeit geleistet.
AR Ja, die Ethischen Richtlinien und die Sammlungspolitik, die über zwei Jahre vom Beirat, den Kuratoren und der Projektleitung diskutiert wurden, sind enorm wichtig für eine demokratische Archivpraxis, die die Menschenwürde der Dargestellten garantieren möchte. In der Praxis hat sich sehr schnell herausgestellt, dass es bei Angehörigen der Minderheit — und auch bei mir als Kurator — Vorbehalte und Ängste vor bestimmten Konzepten von Dokumentierung und Sammlung von Bildern, von Namen, von Geschichten gibt. Ursache dafür sind die bis heute nicht geheilten Wunden der NS-Verfolgungsgeschichte. Unsere Vorfahren wurden von den Nazis in Archiven und Datenbanken erfasst, die die Grundlage für die spätere Inhaftierung, Deportierung und Ermordung waren. So ist natürlich nachvollziehbar, dass selbst der Begriff „Archiv“ bei vielen unserer Menschen eine negative Konnotation hervorgerufen hat. RomArchive kann die schmerzende Wunde des NS-Völkermordes nicht lindern, das ist unmöglich, aber unsere Aufgabe ist es, unseren Nachkommen neue Hoffnung und neue Wege zu ermöglichen. Wenn ich heute auf die Ethischen Richtlinien und die Samm-lungspolitik schaue, ist da eine große Erleichterung. So etwas hat es bisher noch nie für unsere Minderheit gegeben, und ich freue mich sehr darüber, dass auch andere Archive diese Richtlinien als Grundlage nehmen.
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