Donaueschinger Musiktage

75 Jahre Kooperation mit dem SWR – Festakt

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Donaueschinger Musiktage 2025

Unter dem Motto „Voices Unbound“ öffnete die weltweit älteste Plattform für Neue Musik – vom 16. bis 19. Oktober 2025 in Donaueschingen – den Raum für Stimmen in all ihren Klang-, Körper- und Ausdrucksformen. 23 Uraufführungen führten das Festival erneut an die Grenze experimenteller Möglichkeiten und schlugen eine Brücke zwischen politischer Spannung und künstlerischer Freiheit.

Rede zum Festakt

Donaueschingen, 17. Oktober 2025
Anlässlich der 75-jährigen Partnerschaft der Donaueschinger Musiktage mit dem Südwestrundfunk (SWR) 

Ort: Donauhallen
Rednerin: Kirsten Haß 

– Es gilt das gesprochene Wort –

Zitat

Einer – der eigenen! – Stimme gemeinsam Gehör zu verschaffen, ist eine kaum kontrollierbare Form von empowerment. 

Kirsten Haß 

Begrüßung

(Anreden)

Ich freue mich, Sie im Namen der Kulturstiftung des Bundes zu den diesjährigen Musiktagen mit dem Titel „Voices Unbound“ begrüßen zu dürfen. Die Kulturstiftung fördert die Donaueschinger Musiktage seit 2004 im Rahmen ihrer „Spitzenförderung“. Wir sprechen hier von unserer kulturellen „Leuchtturm-Förderung“. Und offen gestanden: Im Fall der Donaueschinger Musiktage wirkt ein solches „Etikett“ etwas aufgesetzt. Denn dieses Festival strahlt in jeder Hinsicht aus sich selbst heraus: Als international herausragendes Ur-Aufführungsfestival für Neue Musik. Als ein globales Forum zeitgenössischer Klang-Avantgarde, in dem die aufregendsten Musikerinnen und Musiker einmal im Jahr zusammenkommen. Zunehmend aus allen Kontinenten. Zunehmend weiblich. Und zunehmend in einer Stadt, die sich vom Konzertsaal bis in die Schulen hinein für die Dauer von vier Tagen in einen einzigen begeisterungsfähigen Resonanzraum verwandelt.

 

Blonde Frau auf dunkler Bühne am Pult, davor Blumen
Donaueschinger Musiktage 2025 - Kirsten Haß zum Festakt. Foto: SWR/Astrid Karger

Dank

Wir sind auf Seiten der Kulturstiftung des Bundes außerordentlich dankbar, dass Donaueschingen seit dem Jahr 1921 den Beweis führt, dass künstlerische Qualität im Weltmaßstab keinesfalls nur Sache der Metropolen ist. Sondern dass diese durch ein glückliches Zusammenspiel von musikalischer Expertise, organisatorischer Beherztheit, mäzenatischem Großmut, einer gemeinschaftlichen Lust auf das Neue und viel Ausdauer eigentlich überall gelingen kann – oder vielleicht gerade an DEN Orten, die sich dem einen Kunstereignis auf Zeit vollkommen hingeben.

All das findet sich in Donaueschingen seit Jahrzehnten. Und aus all dem hat sich hier ein Kraftfeld an Kooperationen etabliert – zwischen Künstlerinnen und Künstlern, Zivilgesellschaft, öffentlichem Rundfunk, der Kommune, dem Land und auf Seiten des Bundes uns als Kulturstiftung. Wir sind überaus froh, dieser Allianz ästhetischer Ermöglichung anzugehören. Dieses Jahr gilt unser besonderer Dank dem Südwestrundfunk. Wir gratulieren Ihnen allen zu einer 75-jährigen Partnerschaft von Rundfunkleitung, Sinfonieorchester, Vokal-Ensemble, Programmgestaltung, Mitschnitten, Übertragung, Dokumentation – ohne das großartige Commitment der zahlreichen Teams des SWR wäre die Erfolgsgeschichte der Donaueschinger Musiktage nicht möglich gewesen! 

Diese Geschichte ist ein echtes Pfund: künstlerisch und kulturpolitisch. Aber sie ist kein Erbe, auf dem sich dieses Festival ausruht. Ganz im Gegenteil: Die Donaueschinger Musiktage – Sie alle! – gehen Jahr für Jahr neu ins Risiko! Als eine Institution der Experimente, eine Institution der Freiheit, die für unsere Erfahrungsmöglichkeiten von Musik, Klang und Rhythmik immer wieder Neuland betritt. Und deswegen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich der Künstlerischen Leiterin, Lydia Rilling, und ihrem gesamten Team unseren herzlichen Dank aussprechen. Sie stehen gemeinsam dafür ein, dass uns die Musiktage auch in diesem Jahr mit gänzlich unerwarteten Antworten auf die Frage überraschen, was zeitgenössische Musik heute sein kann, wie sie wirkt und was sie darf.

Eigentlich darf sie alles. 

 

Dunkelhaarige Frau in fuchsiafarbenem Kleid auf der Bühne, davor Blumen (öffnet Vergrößerung des Bildes)

Rede

Der Blick in das Programm beweist es: Die ganze Klang-Welt steht diesem Festival offen. Manches wirkt fremd und fern. Anderes vertraut und nah…zum Beispiel…die Stimme…die STIMMEN! „Voices Unbound“ – man möchte sagen: „Unbändige Stimmen“ – so lautet der anspielungsreiche Titel dieser Donaueschinger Musiktage.

Verehrte Anwesende: Wie kommt es, dass etwas so Naheliegendes, ja mehr noch: etwas uns allen Innewohnendes in den titelgebenden Fokus dieses Festivals rückt? Was ist dran an der Stimme? Auf den ersten Blick scheint eine Stimme immateriell und schwach, ein ephemeres Resultat des Zusammenspiels aus Muskeln, Stimmlippen, Kehlkopfknorpel und Atem. Aber wenn es darauf ankommt, hat sie als eines der komplexesten Instrumente, über das Menschen verfügen, ein geradezu phantastisches Gewicht. Sie bildet nach der Geburt das erste universelle Bindemittel zur Welt. Sie erklingt im Schrei des Aufbegehrens, trägt den Urteilsspruch, wird hörbar im Gebet oder in der parlamentarischen Rede. Sie kann Husten sein, Gähnen, Stöhnen, Schluckauf oder…oder Gesang.

Singend nehmen wir Stimmen in ihrer ästhetischen Form wahr. Das klingt so profan. Aber führen wir uns diese radikale Transformation vor Augen, dieses wunderbare Vermögen, dass wir als Menschen zu einem solchen „Stimm-Bruch“ – heraus aus der Alltags-Vokalität und hinein ins Musikalische – befähigt sind. 

„Wie ist es möglich zu singen?“, so fragt die italienische Komponistin und Klangforscherin Francesca Verunelli als Programmteil der „Voices Unbound“: „Wie ist es möglich zu singen? Wie kann die Stimme diese kühne und brutale Handlung vollziehen – eine politische Handlung par excellence – sich vom Körper zu lösen und Gesang zu werden?“.

In ihrer Produktion „La Nuda Voce“ – „Die nackte Stimme“ – wird Francesca Verunelli sich auf die Erkundung einer – wie sie sagt – „Essenz des Klangs“ begeben. Mich fasziniert hierbei die Frage, was „das Politische“ und „das Kühne“ des Singens ausmachen könnte. Zwei Antworten kommen mir in den Sinn: Die erste betrifft die ästhetische Kraft, mit der ein Wechsel von der Sprechstimme in den Gesang augenblicklich die Beziehung verändern kann, die wir zu unserer Umwelt unterhalten. Der Gesang zieht für den Wahrnehmungs-Raum, in dem wir ihn erleben, gewissermaßen ein ganz eigenes Register – das Register der Kunst. 

Vielleicht erinnern Sie ja ein solches: Wenn jemand, der oder die spricht, mit einem Mal singt, ändert sich förmlich die Temperatur im Raum – manche von uns kennen dies zum Beispiel, wenn in der Kirche anstelle der gesprochenen die gesungene Liturgie erklingt. Und Sie erinnern, als Barack Obama vor zehn Jahren bei einer Trauerveranstaltung in Charleston für die neun afroamerikanischen Gemeindemitglieder, die während einer Bibelstunde erschossen wurden, aus seiner Rede ausbrach. Wie er unvermittelt begann, „Amazing Grace“ zu singen. Dieser Augenblick wirkte kühn und wie ein Schock. Die rhetorische Distanz brach ein, die Trauerrede verwandelte sich in eine Hymne des Trostes und der Erlösung. 

Natürlich lag das auch an diesem Lied, einem vielgesungenen Chorlied, das immer schon geeignet ist, das Tiefenerlebnis des eigenen Gesangs in Beziehung zu setzen zur vokalen Union aller Mitsingenden. Die wiederum in Beziehung treten zum architektonischen Raum, in dem das musikalische Ereignis zu einem öffentlichen Akt wird – und im Fall von „Amazing Grace“ zu einer Manifestation von Mitgefühl und Solidarität. Gemeinsam zu singen heißt, gemeinsam gehört werden zu wollen. Einer – der eigenen!  Stimme [gemeinsam] Gehör zu verschaffen ist eine kaum kontrollierbare Form von Empowerment. 

Und damit verbindet sich die zweite Antwort auf die Frage nach der politischen Dimension des Singens. Aus guter demokratischer Praxis sind wir gewohnt, unsere Stimme „abzugeben“: Bei Bundes- oder Landtagswahlen. Das ist – ohne Frage – ein essenziell demokratisches Ereignis, um das eigene Parteien-Votum in eine mehrheitsbildende „Stimme des Volkes“ zu transferieren. Vielleicht aber reicht diese „Abgabe der Stimme“ nicht länger aus?  Vielleicht sind wir zu stumm?

Da in autokratischen Systemen – aber nicht nur dort – demokratie-skeptische oder offenkundig demokratie-feindliche Stimmen die Oberhand gewinnen, besteht möglicherweise unser aller Aufgabe darin, dass wir uns über die „stumme Stimm-Abgabe“ an der Wahlurne hinaus für neue Praktiken der Partizipation entscheiden: Für einen vielstimmigen Sound und diese „Amazing Grace“ der Demokratie.

Für kühne Akte des Einspruchs gerade auch der einzelnen Stimme, die das Wagnis eingeht, sich einer Meinung der Masse entgegenzustellen.

Für eine politische Kultur, die mehr denn je auf Stimmen der Mäßigung, des Ausgleichs und fairen Miteinanders angewiesen ist. 

Meine Damen und Herren. 

Politische Stimmungsmacherinnen und -macher haben wir wahrlich genug. Dieses Festival ist Teil einer Gegenbewegung. Nicht weil die Kunst auf politische Botschaften verpflichtet wird. Sondern, weil sie frei ist. Und bleibt. Denn nur in dieser Freiheit kann sie den Stimmen von Künstlerinnen und Künstlern Raum geben, die unsere Ohren öffnen, unsere Herzen weiten und unsere Aufmerksamkeit schärfen für die grandiose, unbändige Vielstimmigkeit unserer Gegenwart. 

Ich danke allen Musikerinnen und Musikern – und wünsche uns allen wunderbare Donaueschinger Musiktage.
 

 

Donaueschinger Musiktage 2025
Kirsten Haß beim Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Donaueschingen. Foto: SWR/Ralf Brunner