Laudatio lesen
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident.
Meine Damen und Herren…
und vor allem natürlich: Sehr geehrte Frau Direktorin Wenzel. Liebe Mirjam!!
Es ist eine große Ehre und Freude, an diesem Tag hier im Jüdischen Museum zu Ihnen und zu Dir sprechen zu dürfen. Wir feiern Deine Auszeichnung als Museumsdirektorin, Kuratorin, Vordenkerin, Digital-Avantgardistin…– mir würden hier noch viele Titel einfallen. Vor allem aber feiern wir Dein wundervolles Talent, auf Menschen zuzugehen, um ihnen die Hand auszustrecken….und diese Hand auch dann nicht wegzuziehen, wenn Gegensätze hervortreten…
Wir alle wissen: Dies ist in unseren Zeiten kaum zu vermeiden. Selbst an einem Tag wie heute. Es mag Zufall sein, für mich ist es eher eine Fügung, dass dieser Tag der Freude zugleich ein Tag des Gedenkens ist. Herr Ministerpräsident Rhein hat das Datum bereits erwähnt: Heute, an Jom Hashoah gedenkt der Staat Israel – und mit ihm Jüdinnen und Juden in aller Welt – den Millionen Opfern der Shoah und den jüdischen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern. Wir nehmen Anteil an dieser Erinnerung. Und wir beklagen, dass diese Vergangenheit nicht vergangen ist, sondern dass gegenwärtig überall in Deutschland antisemitische Täter Menschen als Jüdinnen und Juden bedrohen und angreifen.
Wie mit dieser neuen Intensität der Gewalt und mit dem permanenten Zwiespalt von Vergangenheit und Gegenwart umzugehen ist, darauf hat Mirjam Wenzel im Zuge ihrer Laufbahn sowohl als Wissenschaftlerin wie auch als Weggefährtin zeitgenössischer Künste eine Antwort zu geben versucht. Als Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes darf ich Ihr Augenmerk zunächst auf die Kunst lenken und daran erinnern, dass Mirjam Wenzel bereits vor vierundzwanzig Jahren, im Frühjahr 2001 – im Schatten der zweiten Intifada – ein kollektives Kunstprojekt zwischen Berlin und Tel Aviv initiiert hat. Sein Titel: „Novalog“. Sein Befund: Es gibt in Israel keine künstlerische Erforschung der Gegenwart, in die nicht immer schon Konflikte der Vergangenheit eingeschrieben wären.
Yael Bartana – die in Berlin lebende israelische Künstlerin – hat im Jahr 2014 mit ihrer Performance-Arbeit „Two Minutes Standstill“ die Idee für eine kollektive Aneignung dieses Gedenkrituals Jom Hashoah in die Tat umgesetzt. Überall in Schulen, Universitäten, Büros und auf den Straßen waren die Menschen aufgefordert, ihren Alltag für zwei Minuten zu unterbrechen, um zu schweigen, in sich zu gehen und den Opfern der Shoah zu gedenken. Entscheidend für diese erinnerungskulturelle Erprobung war, dass Yael Bartana die Gegensätze von Historie und Heute, von Deutschland und Israel nicht für unüberbrückbar hält. Bei aller Ambivalenz der Geschichte erkennt sie zuallererst eine optimistische Konstellation – voll von Aufbrüchen und neuen Perspektiven der Kooperation.
Yael Bartana beschreibt es so – ich zitiere:
„Tausende junger Israelis sind in den vergangenen Jahren nach Deutschland gezogen. (…) Wir müssen mit unserer Geschichte gemeinsam umzugehen lernen. Wir sollten der Vergangenheit gedenken, aber die Gegenwart anerkennen.“
Genau so könnte der von Mirjam Wenzel gesetzte Leitgedanke lauten, den wir nicht allein mit ihrer kuratorischen Arbeit verbinden, sondern mit der gesamten Ausrichtung des Jüdischen Museums Frankfurt – dem Sie, verehrter Herr Ministerpräsident Rhein, gemeinsam mit Herrn Minister Gremmels auf Seiten des Landes Hessen, und Sie, verehrte Frau Kulturdezernentin Hartwig, auf Seiten der Stadt Frankfurt – einen verlässlichen staatlichen Rückhalt bieten. Ich darf Ihnen dafür meine Anerkennung und meinen Dank aussprechen. Mit Ihrem Engagement setzen Sie weit über Frankfurt und Hessen hinaus ein Zeichen für die Stärkung jüdischen Lebens in Deutschland und dafür, dass in unserer offenen Gesellschaft Antisemitismus keinen Platz haben darf.
„Der Vergangenheit gedenken, aber die Gegenwart anerkennen.“ Auch das Umgekehrte gilt: Die Gegenwart anerkennen, aber der Vergangenheit gedenken. Wie es gelingen kann, sich mit Rücksicht auf beide Linien der Gedenkkultur zu orientieren, konnte Mirjam Wenzel aus persönlichen Erfahrungen in Israel lernen: Etwa beim Aufenthalt im Kibbuz „Yad Hanna“ noch vor ihrem Studium, sowie in den 90er Jahren, als sie in Tel Aviv unter anderem zur Geschichte der israelischen Frauenbewegung forschte.
Dort, in Israel, haben sich unsere Lebenswege beinahe gekreuzt. Anders als viele junge Israelis haben wir den umgekehrten Weg genommen und sind von Berlin beziehungsweise Warschau nach Tel Aviv gegangen: Um dort zu arbeiten und dabei Freundschaften zu schließen. Um zu erfahren, was israelisches Selbstbewusstsein auszeichnet. Um zu lernen, was das Aushalten von Gegensätzen bedeutet und welche Anforderungen die Wirklichkeit im Nahen Osten in einer Weise an Eigenschaften unseres Denkens stellt, die Hannah Arendt – die von Mirjam Wenzel so intensiv geschätzte Hannah Arendt – in ihrer Lessing-Preis-Rede mit diesen Worten beschrieb:
Ich zitiere: „Dass zum Denken nicht nur Intelligenz und Tiefsinn, sondern vor allem auch Mut gehört, ist uns noch halbwegs vertraut; viel erstaunlicher für uns ist, dass Lessings Parteinahme für die Welt so weit gehen konnte, dass er für sie sogar die Widerspruchslosigkeit mit sich selbst (…) opfern konnte.“ Zitat Ende.
Meine Damen und Herren.
Wer mit Hannah Arendt die „Widerspruchslosigkeit mit sich selbst“ aufgibt, tauscht den Geltungsanspruch genereller Meinungen und Standpunkte mit der Bereitschaft, die Kunst als eine Übung in „Denkfreiheit“ zu begreifen, um auf diese Weise – wie Lessing formuliert –, „den Vorurteilen die Stirne zu bieten“. Etwas sehr Ähnliches – wenn Sie den Vergleich erlauben – tut dieses Jüdische Museum: Basierend auf historischen Fakten eröffnet es ein umfassendes Angebot intellektueller „Bewegungsfreiheit“. Im Glücksfall trägt dies dazu bei, das eigene Denken und Handeln in Frage zu stellen. Und es kann mithelfen, jene Demut aufzubauen, die Amos Oz als einen Beitrag zur „Immunität gegen den Fanatismus“ lobt, und die er mit der Erkenntnis des Dichters Yehuda Amichai verbindet – ich zitiere:
„An dem Ort, an dem wir recht haben, //werden im Frühjahr niemals Blumen wachsen.“
„WIR SIND JETZT!“
Mit diesem Credo tritt das Jüdische Museum am 21. Oktober zweitausend-zwanzig nach jahrelangem Umbau seine Rückkehr auf die deutsche und auf die europäische Museumsbühne an. Es zeigt mit Highlights aus den Sammlungen, mit cutting-edge-Medienproduktionen und mit künstlerischen Positionen, wie lebendig und facettenreich die jüdische Kultur in Frankfurt früher war und heute wieder ist. All dies – so betont Mirjam Wenzel – geschieht im Austausch mit den Menschen dieser Stadt, mit Neugierde gerade auf all jene, die mit Museen kaum vertraut sind…ganz im Sinne eines zweiten Credos, auf das sich das gesamte Team in seinem Mission Statement verständigt hat:
„WIR SIND EIN MUSEUM OHNE MAUERN!“
Das bedeutet: Das Jüdische Museum ist ein sozialer Ort! Ein Ort für Zusammenkünfte bei Kultur- und Diskursveranstaltungen, für den Buch- und den Gaumen-Genuss im einzigen koscheren und veganen Museumsrestaurant der Bundesrepublik. Bundesweit herausragend ist die Digitalstrategie, mit der Mirjam Wenzel das Jüdische Museum in die Zukunft führt. Bei einem Meilenstein, dem Projekt METAhub, durfte die Kulturstiftung des Bundes in den vergangenen Jahren einen einzigartigen Outreach- und Transformationsprozess begleiten: Ein historischer Keller im Areal des zerstörten jüdischen Ghettos verwandelte sich hierbei in einen digitalen Experimentalraum, in den das Archäologische Museum, das Künstler*innenhaus Mousonturm und das Jüdische Museum ihr Frankfurter Publikum gemeinsam einladen.
„Das In-Beziehung-Setzen braucht immer neue Formen.“ So sagt Mirjam Wenzel im Podcast zum Projekt „METAhub“. Dennoch ist für eine wegweisende Museumspolitik die technische Innovation kein Zweck an sich. Entscheidend bleibt das „Wofür“. Entscheidend bleibt die Mission, den Wirkungskreis eines Museums für jüdische Geschichte zu vergrößern, um institutionelle Allianzen zu schließen und möglichst vielen Menschen eine Begegnung zu ermöglichen. Mit diesem Ziel vor Augen verfolgt das Jüdische Museum eine an Formenreichtum kaum überbietbare – wie Mirjam Wenzel es nennt: „Beziehungsarbeit“. Sie reicht weit in die Stadtgesellschaft hinaus. Sie bezieht gleichermaßen zeitgenössische Künste, Wissenschaft und Vermittlungsexpertise ein. Sie bekämpft Antisemitismus mit Bildung, wo Geschichte ins Vergessen gerät. Und sie hält dagegen, wo zum Beispiel rechtsextreme Geschichtsbesessene bereit sind, eine alternative Deutung der Geschichte durchzusetzen.
Meine Damen und Herren.
Nie in der jüngeren Geschichte war diese Beziehungsarbeit in einem Jüdischen Museum wichtiger als nach dem 7. Oktober zweitausend-dreiundzwanzig. Und nie war sie schwieriger, da so viele „Beziehungs-Gewissheiten“ ein schmerzvolles Ende fanden. Mirjam Wenzel und ich trafen schon wenige Tage nach dem Terror-Angriff der Hamas am 11. Oktober auf einem Digital-Kongress in Essen zusammen. Wir waren fassungslos angesichts der Bestialität der Übergriffe, wir waren voller Sorge um unsere Freundinnen und Freunde in Israel, und wir waren geeint in der Überzeugung, dass Kulturinstitutionen den Polarisierungen entgegentreten und Räume für Mitgefühl, Solidarität und Verständigung eröffnen sollten.
Das Jüdische Museum hält an diesem Engagement fest: Ein Beispiel: „Bring them home.“. Die Namen der Geiseln hören Sie – verlesen mit den Stimmen von Team-Mitgliedern des Museums – Tag für Tag draußen im Hof. Ein zweites: Das Präventionsprogramm „Anti-Antisemitismus“ an Berufsschulen wurde ausgebaut; Lehrerinnen und Lehrer besuchen Seminare zu Demokratiebildung, Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Mirjam Wenzel hat sich voller Besonnenheit und mit Haltung für Verständigung eingesetzt und sich nicht gescheut, einen respektvollen Raum für Kontroversen zu eröffnen. Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte sie – ich zitiere:
„Das Jüdische Museum hat die Aufgabe, sichere Räume für Reflexionen über die Gegenwart bereitzustellen […] Das heißt aber zugleich auch, dass die großen geopolitischen Konflikte direkt in unsere Einrichtung […] hineinstrahlen.“ Zitat Ende.
Meine Damen und Herren,
Wem – wie Mirjam Wenzel – die „Konflikte der Gegenwart“ „direkt“ ins Museum hineinstrahlen – der Krieg in der Ukraine, die Proteste gegen die Regierung in Israel, der Terror des 7. Oktober, der Krieg im Gaza, der Krieg im Libanon – und ich könnte hier noch weiter aufzählen – der oder die macht keine klassische Museumsarbeit! Für den gibt es keine fertigen Resultate und keine endgültige Auflösung von Widersprüchen. Sondern nur einen in der Gegenwart verankerten Verständigungsprozess, der in einer liberalen Demokratie gemeinsam gestaltet werden muss. In diesem Sinne ist das Jüdische Museum auch kein Geschichtsmuseum: Es ist ein aufsuchendes und ein aktivierendes Museum. Es sucht nach einem Ort engagierter Zeitgenossenschaft, nach einer Praxis des Erinnerns, die gleichermaßen auf die Gegenwart wie auf die Zukunft gerichtet ist und an der teilzuhaben Mirjam Wenzel von Herzen einlädt – ihre Hand ist ausgestreckt…für Sie, für mich, für alle.
Liebe Mirjam – ich gratuliere Dir voller Hochachtung zur Verleihung des Hessischen Kulturpreises 2025. Und ich beziehe das gesamte wunderbare Team des Jüdischen Museums in diese Hochachtung ein! Verehrter Herr Ministerpräsident – ich gratuliere Ihnen und dem anwesenden Kuratorium, dass Ihre diesjährige Wahl des Kulturpreises auf eine so kluge und mutige Museumdirektorin gefallen ist. Meine Damen und Herren – ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.