Die Staatsform Demokratie befindet sich nach Einschätzung der Historikerin Hedwig Richter in einem besseren Zustand, als ihr aktuell angesichts globaler Krisenerscheinungen zuerkannt wird. Im Interview plädiert sie dafür, autoritäre Backlashs auch als Vorboten kommender Fortschritte zu begreifen — und weiter dafür zu streiten, weltweit mehr Menschen das Recht auf den Besitz an sich selbst einzuräumen.

 

Frau Richter, Ihre Studie zur modernen Demokratie lasst sich zu Rate ziehen, wenn einem angesichts aktueller autoritärer Bewegungen in Europa und darüber hinaus Ohnmachtsgefühle überkommen. Sie raten demgegenüber zu einer langfristigeren Perspektive.

Hedwig Richter: Welche enormen Entwicklungsprozesse die Demokratie in den vergangenen 200 Jahren durchlaufen hat, wird anhand von Beispielen deutlich, die zeigen, wie drastisch sich die politische Lage zugunsten des Individuums verändert hat. Etwa in Bezug auf den Umgang mit Kindern, einem guten Indikator für den Zustand demokratischer Gesellschaften, kann beobachtet werden: Noch in den 1960er und 1970er Jahren hat ein ‚guter‘ Vater sein Kind geschlagen — diese Gewalt war Teil der Normalität. Heute ist sie verboten. Unser gesellschaftliches Empfinden von Normalität in Hinsicht auf körperliche Unversehrtheit, Macht und Gleichwertigkeit der Rechte aller zeigt eine starke Entwicklungslinie, die auch die der Demokratie ist.

Historisch betrachtet, gingen und gehen solche Entwicklungslinien grundsätzlich auch mit starken Gegenentwicklungen einher — immer wieder ist mit der Ausweitung demokratischer Rechte zunächst auch ein Backlash verbunden. Dies lässt sich beispielsweise in den USA beobachten, als Afroamerikaner um 1870 ihr Wahlrecht erstritten. Es gab Stimmen innerhalb der Weißen Eliten, die sich laut und mit aller Kraft gegen die Ausweitung des Wahlrechts für Nicht-Weiße Bürger der USA aussprachen. Das Selbstverständnis vieler Weißer Männer als Gestalter und Entscheidungsträger kam ins Wanken, als nun neue Protagonisten an die Wahlurne traten, um ihre Rechte wahrzunehmen. Diese Ausweitung demokratischer Rechte brach mit dem Selbstverständnis von der Exklusivität Weißer Männlichkeit, da es an dem Vorrecht auf die Einnahme von öffentlichem Raum und politischer Teilhabe rüttelte. Der politische Veränderungsprozess der Demokratisierung wurde davon aber letztendlich nicht aufgehalten. Ein Backlash ist ernst zu nehmen, gerade weil er sich oftmals gewaltvoll gegen Menschen mit vormals weniger Rechten vollzieht. Aber oft wird er überwunden und häufig haben die Gegenkräfte nicht das letzte Wort. Das lässt sich bereits für aktuelle Krisenerscheinungen mitbedenken.

Ist Ihre historische Perspektive also ein Plädoyer für Geduld? Das wäre viel verlangt von denjenigen, die unter Ungerechtigkeiten leiden müssen.

Wir verstehen die Demokratiegeschichte sehr oft als eine Gewaltgeschichte und primär als die Geschichte von Revolutionen, also von durch Gewalt erwirkten Umstürzen. In Hinblick auf das 19. und 20. Jahrhundert lässt sich demgegenüber aber immer wieder erkennen, dass die großen gesellschaftlichen Fortschritte sehr oft durch Reformen zustande kamen. Emanzipatorische Veränderungen wurden und werden dabei prozesshaft herbeigeführt und oft nicht kurzfristig erzwungen. Dies betrifft besonders die Teilhabe derjenigen, die nicht von Beginn an Zugang zu politischem Raum hatten. In westlichen Demokratien sind dies in dem genannten historischen Zeitraum insbesondere Frauen. Den falschen Fokus auf revolutionäre Momente und Akteure hat meine Kollegin Christina von Hodenberg etwa am Beispiel der 68er-Bewegung sehr überzeugend argumentiert: Im kulturellen Gedächtnis aufgerufen werden zu dieser Bewegung die Bilder Steine werfender junger Männer. Aber die eigentlichen, in einem langfristigen Sinne „revolutionären“ Veränderungen des Normalitätsempfindens fanden in Familien statt — in den Bereichen, in denen Frauen stark prägend waren.

Es gibt eine sehr interessante Transformationsforschung zum 20. Jahrhundert, die belegt: Gewalttätige Proteste neigen eher dazu, in einer Diktatur zu enden. Das wird damit erklärt, dass die gewalttätigen Umstürze oft nur von Wenigen getragen und umgesetzt werden — wenigen Männern in aller Regel —, die sich in der Folge weiterhin mit Gewalt an der Macht halten müssen. Friedliche Proteste und damit verbundene Umstürze hingegen sind für breitere Teile der Bevölkerung zugänglich — im wörtlichen wie im mentalen Sinne. Die Beteiligung von Frauen war und ist weiterhin oft ausschlaggebend für die Akzeptanz und Langlebigkeit von erwirkten Reformen.

Eine Form des Protests, die zu Veränderungen in demokratischen Systemen führt, ist laut Ihrer Analyse besonders die Skandalisierung von körperlichem Leid.

Für mich ist es sehr produktiv, die Geschichte der Demokratie als eine Körpergeschichte zu begreifen. Der Ausgangspunkt meiner Forschungsarbeit hierzu war mein Erstaunen darüber, mit welcher Absolutheit der Ausschluss der Frauen von der Politik zu Beginn der modernen Demokratie um 1800 als selbstverständlich galt und ihre Beteiligung vollkommen außerhalb des Vorstellbaren lag. Das hat mich beschäftigt! Es gab nur sehr wenige gegenteilige Stimmen, die entweder kaum gehört wurden oder über die man sich lustig gemacht hat. Es gibt interessante Begründungszusammenhänge hierfür, etwa der Hinweis: ‚Es gab im 19. Jahrhundert zwei Sphären, die private für die Frau und die öffentliche für den Mann.‘ Mich interessierten das Zustandekommen und die Gründe für die Beständigkeit dieser beiden Sphären. Dies lässt sich besser begreifen, wenn man den engen Zusammenhang zwischen dem Körper und dem Politischen betrachtet.

Selbst bürgerliche Frauen haben zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal ihren eigenen Körper besessen. Sie konnten geschlagen werden, sie konnten vergewaltigt werden, mindestens von ihren Ehemännern. Frauen aus unteren Schichten waren noch weit stärker körperlicher Gewalt ausgeliefert. Ein Mensch, der seinen Körper nicht besitzt, kann nicht als Bürger gedacht werden, der zur Selbstregierung befähigt ist. Das Bild eines selbstbestimmten Bürgers, der selbstbewusst in der Öffentlichkeit spricht und bei den Wahlen seine Stimme abgibt, kann überhaupt nicht zusammengehen mit einem Menschen, der noch nicht einmal die Hoheit über seinen eigenen Körper hat.

Und damit komme ich zu einem ganz wesentlichen Punkt, den ich auch für die politische Situation bis in die Gegenwart stark machen möchte: Der demokratische Staat darf nicht auf die Person zugreifen. Der ursprünglichste Besitz eines Menschen, der ihm Gleichheit und Würde ermöglicht, ist sein Körper. In Pandemie-Zeiten heißt das, der Staat muss die Bedingungen für Leben und Gesundheit schaffen — für die Grundlagen der körperlichen Würde. Für die Weißen Männer um 1800 stand deshalb nicht zur Disposition, dass Frauen ein Wahlrecht erteilt werden könnte; das Beispiel der Sklaverei in den USA macht es ebenso einsichtig. Marginalisierte Gruppen stellten diese Besitzstrukturen in Frage und kämpften lange für das Recht auf ihre eigenen Körper. Um 1900 entstanden dann ganz neue Vorstellungen von der Würde des Körpers — so wurde beispielsweise häusliche Gewalt problematisiert, die Lebensumstände verbesserten sich für größere Teile der Bevölkerung, das Lebensalter stieg entsprechend, die Kindersterblichkeit sank. All das sind, so betrachtet, Vorbereitungen demokratischer Entwicklungen.

Die Frauen in den Industriestaaten erzielten den Durchbruch für sich aber erst Ende des 20. Jahrhunderts mit der Durchsetzung des Wahlrechts. Neben vielen anderen Gründen hat dieser Schritt der Emanzipation auch mit der Umsetzung eines neuen Körperregimes zu tun.

Wo erleben wir heute den Kampf um das Recht, sich selbst besitzen zu dürfen?

Für die Gegenwart gesprochen: #MeToo ist ein hochinteressanter, wichtiger Schritt, durch den mit Selbstverständlichkeiten gebrochen wird, die die vermeintliche Minderwertigkeit der Frau auf der Ebene ihrer Erfahrung von Körperlichkeit zementiert hatten: Die Pfiffe auf der Straße, die kleinen Gesten bei der Arbeit, die Hand auf dem Schenkel — ganz zu schweigen von Machtstrukturen, unter denen Vergewaltigungen begünstigt wurden. All das hat dem weiblichen Körper eine erniedrigte Position zugewiesen. Die implizite Selbstverständlichkeit dieser Position wurde durch #MeToo noch weiter zurückgedrängt. Das ist ein nicht untypischer Schritt für liberale Demokratien, die, bei allen Problemen und Rückschlägen, doch auf dem richtigen Weg zu sein scheinen.

Bei Black Lives Matter wird die Frage nach der universellen Gleichheit gestellt, mit der auch die moderne Demokratiegeschichte beginnt. Wir müssen uns ein der Gegenwart angemessenes Konzept von Gleichheit für eine sich globalisierende Welt geben. Black Lives Matter betrifft nicht nur People of Colour innerhalb der westlichen Länder oder innerhalb der Demokratien. Was bedeutet der grundlegende Anspruch auf universelle Gleichheit für die Menschen weltweit, die aus ökonomischer Perspektive bisher nicht im Besitz ihrer Körper sind, die in unwürdigen Umständen leben müssen?

Diese gegenwärtigen Zustände wurzeln auch zu Teilen in der Geschichte unserer Demokratien. Wie lässt sich damit umgehen?

Menschen weltweit fordern eine neue Herangehensweise an die Gedenkkultur und hinterfragen die Heldenstatuen, die unseren öffentlichen Raum prägen. Als Historikerin bin ich vorsichtig damit, Denkmäler in einer Auseinandersetzung um ihre Bedeutung sofort abzureißen. Natürlich gibt es Fälle, in denen das wohl richtig ist, aber wir sollten immer dem Einzelfall genau Rechnung tragen. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte darf nicht voreilig getilgt werden. Dazu gehört, unseren Umgang mit Denkmälern grundlegend zu überdenken. Auf den Sockeln müssen heutzutage nicht mehr nur unsere Helden stehen. Denkmäler können auch geschaffen werden, um die Erinnerung an falsch eingeschlagene Wege wach zu halten und dafür weiterhin die Verantwortung zu übernehmen. Für Demokratien erscheint es mir angemessen, dass sie in ihren Denkmälern auch Selbstkritik üben. Ein historisches Denkmal braucht dafür eventuell einen kritischen künstlerischen Kommentar aus der Gegenwart. Vielleicht findet man für ein anderes Denkmal auch eine angemessenere symbolische Platzierung als auf einem Sockel? Die Gesellschaft muss lernen, die Widersprüche, aus denen sie hervorgegangen ist, anders auszuhalten.

 

Die Fragen stellte Jeanne Bindernagel

Hedwig Richter

Hedwig Richter ist Professorin für Neuere Deutsche Geschichte an der Universität der Bundeswehr München. Demokratie, Migration, Geschlechterverhältnisse und Kirchengeschichte sind Schwerpunkte ihrer Forschung. Richters Studie „Demokratie. Eine deutsche Affäre“, in der sie sich mit der Geschichte von Körper, Geschlecht und Gesundheit im Verhältnis zur demokratischen Entwicklung seit dem 18. Jahrhundert beschäftigt, ist im Sommer im C. H. Beck Verlag erschienen und ist für den Bayerischen Buchpreis nominiert. 2020 erhalt Hedwig Richter den Anna Krüger Preis für Wissenschaftssprache.

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