Gregor Jansen: Informal City?

Städte haben einen eigenen Rhythmus. Eine Dynamik, die vor allem ihre Einwohner, mehr aber noch, ihre kurzfristigen Besucher erfasst. China und insbesondere Peking oder Beijing steht vor einem zweiten, völlig anders gelagerten positiven "Grossen Sprung nach vorn". Die Hauptstadt des bevölkerungsreichsten Landes der Erde ist eine faszinierende, erschreckende, wunderbare, rasante, kraftvolle, unbeschreibbare, packende und abstossende Horrorvision einer virtuellen Utopie des beginnenden dritten Jahrtausends. Es ist inmitten radikaler Veränderungen, steht vor ungeheuren, revolutionären Herausforderungen und bleibt doch (hoffentlich) der Tradition verhaftet (seit kurzem wird Denkmalschutz zum Thema).
Alle Macht geht vom Volke aus! Nirgendwo anders wenn nicht hier, inmitten des chinesischen Lebens und des Reichs der Mitte stehen die Menschen und ihre Lebenssituationen zwischen Schicksal und Hoffnung krasser vor Augen. Nirgendwo anders stellt das urbane Leben eine Herausforderung an jeden einzelnen ohne Ausnahme, ihren Rhythmus zu tragen und mitzuprägen. Gerade deswegen erscheint die scheinbare Ordnung im scheinbaren Chaos so wundersam und fremd, und das Informelle wird überstrahlt vom Formellen.
Die öffentliche Sache - res publica: Dingpolitik. Stellen wir jedoch die Dinge für einen Moment zur Seite und widmen wir uns den Leerstellen, die sie zurücklassen. Vielleicht könnte eine neue Funktion der Kunst die Entzauberung der kapitalistischen Dingwelt sein, um das Ertragen von und die Widerstandsfähigkeit gegenüber konsumorientierten Verzauberungsstrategien zu stärken. Jedenfalls höre ich solche Töne hier desöfteren. Nicht nur Hedonismus, sondern Geist; nicht Haben, sondern Sein; nicht Lamentieren, sondern Agieren - bisweilen mit künstlerischen Werkzeugen. Das klingt auch wie eine Utopie. Höchste Zeit, dass wieder eine kommt - frei nach dem Satz von Gaston Bachelard: "Der Raum ruft die Aktion, und vor der Aktion arbeitet die Einbildungskraft." Wir sind mittendrin, statt nur dabei.
Die Projekte der Stipendiaten der Kulturstiftung des Bundes und des Goethe-Instituts Peking werden einen kurzen Moment dieses Prozesses innerhalb Pekings beschreiten und zwischen Einbildungskraft und Aktion einen Aufnahmemoment ihrer Momentaufnahmen darstellen. Die Unterschiedlichkeit ihrer Ansätze und Methoden sind ebenfalls eine formale Erfassung des informell Scheinbaren.