Mara Kurotschka

Von Janina Bach

Eine Gruppe Menschen steht früh morgens im Park und klatscht rhythmisch. Einige Meter weiter tanzen Frauen mit bunten Fächern; daneben üben andere Frauen den Schattenkampf mit zwei Schwertern. Unter einem mit Fahnen geschmückten Platz tanzen - in Hörweite zu den anderen Gruppen - ältere Paare zu westlicher Popmusik. Einzelne machen Dehnübungen; ein Mann massiert einem anderen den Arm. Ein älteres Paar steht hintereinander und vollführt fremdartige Bewegungen, die vermutlich der Entspannung dienen.
Nach zwei Monaten in Peking entdeckt die Choreographin Mara Kurotschka immer wieder neue Bewegungsformen. Der Park, in dem sich morgens und abends verschiedene Gruppen vorwiegend älterer Menschen versammeln, während er tagsüber verlassen in der Hitze liegt, ist nur ein Beispiel für die Bewegungsvielfalt der Stadt. Überall sieht die Choreographin Bewegungsformen, die dem westlichen Beobachter fremd oder ungewöhnlich für den öffentlichen Raum erscheinen. Menschen schlafen auf Bänken, in ihren Rikschas, im Sitzen und auf Luftschächten. Männer hocken stundenlang beim Spielen auf der Straße, ohne sich zu setzen. Frauen werden im Damensitz auf Gepäckträgern klappriger Fahrräder durch den dichten Verkehr gefahren.
Mara Kurotschka untersucht und dokumentiert filmisch die vielfältigen Bewegungen der Menschen in einer Stadt, deren Tempo sie trotz ihrer scheinbar ungebremsten Dynamik als "relativ langsam" bezeichnet. Begegnung, Ausweichen, Verweilen und Rückzug sind Aspekte von Bewegung, denen sie bei langen Spaziergängen durch Peking nachspürt. Sie filtert wiederkehrende Motive heraus und stellt sie zu collagenartigen Skizzen zusammen. Indem sie die Bewegungen mit chinesischer und westlicher Musik unterlegt, entstehen kleine Tanzstücke - "Tänze des Alltags" in der Metropole.
Nach dem Verständnis der Choreographin hat "jede Stadt abhängig von ihrem kulturellen Hintergrund, den Traditionen und ihrer Entwicklung eine spezifische Choreographie". Sie gibt die Struktur und das Tempo der Bewegungen vor. Mara Kurotschka setzt sich in Peking mit den Fragen auseinander, wie die Bewegung von großen und kleinen Gruppen aussieht und wie der Einzelne seine Freiräume ausgestaltet. In jeder Kultur herrschen allgemein akzeptierte und kaum reflektierte Bewegungsgrenzen. Im Vergleich zu China schätzt die Choreographin in Deutschland den gesellschaftlich akzeptierten Bewegungsschatz im öffentlichen Raum als viel geringer ein. In China haben die Menschen ein anderes Verhältnis zu ihrem Körper, stellt sie fest. Die Chinesen machen Bewegungen und nehmen Haltungen ein, die in Deutschland in der Öffentlichkeit tabu sind.
Bewegungen beschreibt Mara Kurotschka als von kultureller Identität geprägt. In Peking erkennt sie eine Veränderung der Bewegungsformen durch den High Speed Urbanismus und die Öffnung der Stadt gegenüber dem Westen: "Die Stadt ist hinsichtlich ihrer Bewegungsformen im Umbruch." Tradierte Bewegungen mischen sich mit modernen, westlichen Bewegungsformen. Die Choreographin vermutet, dass sich mit dem nächsten Generationswechsel viel ändern wird. Ihre Videodokumentation fängt Spuren der choreografischen Matrix der Stadt Peking im Jahr 2005 ein und wird damit zum künstlerischen Dokument einer kulturellen Umbruchsituation.