Raoul Schrott: Die erste Erde

Von der Entstehung des Universums bis zur Erfindung der Schrift

Raoul Schrott in Neufundland © Marc LaFlamme

"Nie zuvor gab es so viel an Wissen über den Menschen und das Universum – doch je mehr Daten und Details angehäuft werden, desto weniger verstehen wir im Grunde. Wir wissen zwar, dass die alten Mythen nicht mehr stimmig sind – eine andere Geschichte, die uns und die Welt erklärt, gibt es jedoch nicht." (Raoul Schrott) Diese Geschichte in Form eines Epos zu schreiben, ist das Anliegen dieses Forschungsprojektes.

„Die erste Erde“ als Epos

Einerseits ist es die religiöse Ebene des Epos, die eine moderne Aktualisierung verhindert, denn mittels eines Götterhimmels und Helden läßt sich von unserer Welt nicht mehr erzählen. Andererseits scheint es anders als in der Antike heute nicht mehr möglich, sich einen Überblick über unseren gegenwärtigen Wissensstand verschaffen zu können und diesen dann auch poetisch zu präsentieren. Zu spezialisiert und unzugänglich erscheinen die einzelnen Disziplinen, von der Quantenphysik über die Neurologie bis zur Astronomie – und das obwohl deren Erkenntnisse und praktische Umsetzungen unsere Welt wesentlich bestimmen. So erzeugt das jeweilige Fachwissen immer abstraktere Terminologien, doch erst eine figurative Sprache würde die darin verborgenen Ideen anschaulich, sagbar und begreiflich werden lassen.
'Klimawandel' ist ein äußerst abstrakter Ausdruck für die Stürme und Fluten, die dadurch hereinbrechen; Wird die Metaphorik jedoch ausnahmsweise einmal passend gesetzt – wie beim 'Flügelschlag eines Schmetterlings in Kalifornien, der das Wetter in China verändert' –, ist damit über komplexe Zusammenhänge mehr und eindrücklicheres gesagt als im Klimaabkommen von Kopenhagen. Darin drückt sich jene bewusste Spracharbeit aus, deren ureigenstes Feld die Poesie ist.

Die Reise zu den Fundstellen

Unsere technische Kultur hat in den letzten hundert Jahren diesen Planeten mehr verändert als jede andere Lebensform während ihrer gesamten Epoche. Was von der Ersten Erde – die bis zum Auftauchen der Hominiden 4.5 Milliarden Jahre lang bestand hatte – heute noch greifbar ist, wird deshalb bald überformt und abgebaut sein. Einen letzten Blick darauf zu werfen, ist Thema dieses Projektes.Die Wissenschaften haben die Entstehungsgeschichte der Erde und des Lebens punktuell erschlossen durch Fundstellen, die über die Kontinente verstreut sind. Die einmal entnommenen Gesteinsproben, Fossilien und Knochen werden zu Materialien wissenschaftlicher Diskurse, die schließlich in Museumsvitrinen und Institutsregalen landen. Was dadurch weitgehend verloren geht, ist der Kontext, der sie für uns auch sinnlich erfahrbar macht: als Entdeckung, als Ort im Hier und Jetzt, aus dem diese unvorstellbar alten Relikte plötzlich zu Tage treten, ausgegraben oder vom Wind freigeweht werden.

Ziel des Projekts war es, all die für unsere Welt- und Menschheitsgeschichte relevanten Stationen erzählerisch abzugehen: jene Grabungsorte und Fundstellen, durch die sich unser Wissen darüber erschlossen hat. Die auf der Reise dorthin gemachten Erfahrungen und Erlebnisse ließen sich so mit der zeitlichen Tiefe verbinden, für die diese Plätze symbolisch geworden sind.

Die vier Bücher

Das erste Buch umkreist die Entstehung des Universums, der Elemente, unseres Sonnensystems und der Erde. Aus den Gesprächen mit den Wissenschaftlern ließ sich herausfiltern, was abseits fachsprachlicher Terminologien für uns noch begreifbar werden kann: um dann jene entsprechend eindrücklichen Bilder zu skizzieren, die uns heute fehlen. Der Entstehung des Lebens, der Flora und Fauna bis hin zu den Säugetieren widmet sich das zweite Buch. Das dritte Buch umfasst die Entwicklung von den Hominiden bis zum Homo sapiens – die Evolutionsgeschichte unserer Spezies, von dem im Tschad entdeckten Fossilien über Lucy und Ardi, dem Australopithecus und Ardipithecus in Ostafrika bis zum Neanderthaler. Das vierte Buch schließlich widmet sich den symbolischen Formen unserer Spezies, von den Artefakten über die Höhlenmalereien, Skulpturen und ersten Musikinstrumente bis zu den ersten Spuren von Sesshaftigkeit am Göbekli Tepe, in Jericho und Catal Höyük, und der Entstehung von Schrift.

Die Geschichte selbst setzt sich aus mehreren Erzählebenen zusammen: den Mythen der Weltgeschichte, dem Diskurs der Naturwissenschaften und dem Dialog mit den einzelnen Wissenschaftlern sowie einem Logbuch von Reisebeschreibungen zu den jeweiligen Orten.

Das Buch zum Epos erschien am 26. September 2016 im Carl Hanser Verlag. Der Bayerische Rundfunk hat das Hörspiel produziert, das zusätzlich 17 Gespräche enthält, die Raoul Schrott mit Naturwissenschaftlern über die Hintergründe der Erdentstehung geführt hat. Die Hörfassung ist im Hörverlag erschienen.

Zum Hanser Verlag (externer Link, öffnet neues Fenster)

Zum Hörverlag (externer Link, öffnet neues Fenster)

Hörspielreihe Erste Erde Epos

Für die Hörspielreihe im Bayerischen Rundfunk erzählte Raoul Schrott unter anderem, was ihn beim Schreiben des Epos umtreibt und es wird deutlich, wie die Vermittlung komplexester Inhalte im poetischen Erzählen gelingen kann.

Zur Hörspielreihe im BR (externer Link, öffnet neues Fenster)

Über den Autor

Raoul Schrott, 1964 geboren, wuchs in Tunis und Landeck / Österreich auf. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Mainzer Stadtschreiber-Preis und den Joseph-Breitbach-Preis (beide 2004). Zu seinen Werken zählen: „Gilgamesh“ (Epos, 2001), der Roman „Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde“ (2003), „Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe“ (2008), die Neuübertragung der Ilias (2008) und „Die Blüte des nackten Körpers. Liebesgedichte aus dem Alten Ägypten“ (2010). Raoul Schrott lebt in Österreich.

Kontakt

Antonia Lahmé

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