Über Land - Lesereihe

Die Provinz im Zentrum zeitgenössischer Literatur

Über Land. Foto: Johanna Olm

Das Landleben ist in den Medien angesichts demografischer, infrastruktureller und wirtschaftlicher Veränderungen allgegenwärtig. In Zeitungen, Zeitschriften und im Fernsehen, in politischen Reden, ökonomischen Kalkulationen und in demografischen Untersuchungen werden Bilder ruraler Lebenswelten aufgerufen, die einerseits romantische Vorstellungen einer neuen Landlust bedienen und andererseits düstere Szenarien von ‚sterbenden’ Dörfern entwerfen. Das Land als Imaginationsraum, so scheint es, hat gerade in Zeiten gesellschaftlichen Umbruchs Konjunktur.

Auch die zeitgenössische Literatur hat das Landleben wieder für sich entdeckt – und zwar abseits gängiger Polarisierungen. Soziale, politische, technische und kulturelle Entwicklungen und Umbrüche wirken sich im und am ländlichen Raum besonders deutlich aus. Daraus schöpft auch die Literatur ihre Geschichten. In und mit ihnen werden ländliche Lebenserfahrungen angesprochen und gestaltet, Wünsche, Belastungen und Ängste ausgedrückt und verarbeitet, Veränderungen thematisiert und reflektiert. Diese Geschichten sind nicht allein dokumentarischer Natur; sie verdichten und verzerren, ironisieren und fantasieren, spitzen zu und stellen in Frage.

In der Auseinandersetzung mit individuellen, traditionellen oder gemeinschaftlichen Lebensentwürfen in Stadt und Land fragt das Erzählen nicht zuletzt nach dem ‚guten Leben‘ (bzw. dessen Gegenteil). Was bedeutet der Wandel ganzer Landstriche und Regionen für die Menschen, die in ihnen leben? Welche Probleme und Herausforderungen, Ängste und Hoffnungen, Erinnerungen und Utopien haben sie? Welche Vergangenheiten erinnern sie, in welcher Gegenwart leben sie und wie könnte ihre Zukunft aussehen? Mit diesen und anderen Fragen befasste sich 2016 die Lesereihe „Über Land“.

Studierende des Fachbereichs Design der Fachhochschule Potsdam haben 2015 fünf sehr unterschiedliche Regionen im ländlichen Raum fotografisch erkundet und porträtiert. Die Arbeiten spiegeln die Gebiete in ihrer Unterschiedlichkeit – ihre Bewohner, Eigenheiten, die Landschaft und Räume. In wechselnden Ausstellungen im Foyer der Kulturstiftung des Bundes haben wir zu jeder Lesung eine der Regionen gezeigt. Außerdem fanden im Anschluss an die Lesungen Gespräche mit geladenen Gästen statt. Die Stationen der Lesereihe im Einzelnen:

 

Saša Stanišić liest aus "Vor dem Fest".

In "Vor dem Fest" verweben sich im fiktiven uckermärkischen Dorf Fürstenfelde in einer Nacht die Lebensgeschichten allerhand realer und mythischer Figuren ineinander: eines ehemaligen NVA-Offiziers und einer jungen Studentin, einer nachtblinden Malerin und einer schwermütigen Dorfchronistin, eines Dorfnazis und einer Sat.1-Reporterin, eines Hühnerzüchters und einer Füchsin, zweier geisterhaft reimender Sagengestalten und eines toten Fährmanns. "Fallensteller" erzählt die Fortsetzung der Geschichte: Ein Schriftsteller hat einen Roman über den Ort geschrieben, hat dabei einiges verändert und manches belassen, wurde mit einem Preis ausgezeichnet und hat Literaturtouristen ins Dorf geführt. Aber er ist nicht der einzige, der den Ort aufsucht. "Wie die Motten dem Licht, fliegen uns die Irren neuerdings zu, wir sind's schon fast gewöhnt", sagt dazu das Dorf.

Im Anschluss an die Lesung fand ein moderiertes Gespräch mit Saša Stanišić und dem Lyriker Alexander Gumz statt. Gumz ist Redakteur beim Texttonlabel KOOK und Veranstalter für das Poesiefestival Berlin. 2015 initiierte KOOK das Festival für Literatur und Musik „Wortgarten“ in Fürstenwerder in der Uckermark - demjenigen Ort, der vermeintlich die Hauptrolle in den Texten Stanišićs spielt. Die Moderation des Abends übernahm Dr. Katrin Schumacher vom Kulturradio MDR Figaro.

Begleitend zur Lesung war im Foyer der Kulturstiftung des Bundes eine Ausstellung mit fotografischen Arbeiten aus dem Oderbruch von Johanna Olm und Philipp Pusch zu sehen.

8. Juni 2016
18 Uhr

Veranstaltungsort:
Kulturstiftung des Bundes, Franckeplatz 2, 06110 Halle an der Saale
Der Eintritt ist frei, die Platzzahl begrenzt.

Jan Brandt liest aus "Gegen die Welt".

Mit den Mitteln des „manischen Realismus“ beschreibt der mehr als 900 Seiten umfassende und auch typografisch außergewöhnliche Roman Gegen die Welt ein fiktives ostfriesisches Dorf, dessen Bewohner zwischen sozialer Kontrolle, Freiheit versprechender Popkultur und der auch vor den hintersten Ecken der Republik nicht Halt machenden Globalisierung ihren Platz suchen. Im vermeintlich kleinen und überschaubaren Dorf verstricken sich nahezu unendlich viele Geschichten ineinander. „Das Dorf“, so heißt es im Roman, „ist überall.“

Im Anschluss an die Lesung fand ein moderiertes Gespräch mit Jan Brandt und dem Literaturkritiker Christoph Schröder statt. Schröder schreibt als freier Autor u.a. für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und den Tagesspiegel. Seit 2007 ist er Dozent für Literaturkritik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Begleitend zur Lesung war im Foyer der Kulturstiftung des Bundes eine Ausstellung mit fotografischen Arbeiten aus Idar-Oberstein von Carla Matthes und Paul Thalmeier zu sehen.

3. Mai 2016
18 Uhr

Veranstaltungsort:
Kulturstiftung des Bundes, Franckeplatz 2, 06110 Halle an der Saale
Der Eintritt ist frei, die Platzzahl begrenzt.

Annika Scheffel liest aus "Bevor alles verschwindet".

Annika Scheffels Roman Bevor alles verschwindet erzählt von der anstehenden Umsiedlung und der planmäßigen Zerstörung eines Dorfes, an dessen Stelle ein Staudamm gesetzt werden soll. Indem Scheffel in magisch-märchenhafter Weise vom Leben der Dorfbewohner berichtet, geht der Roman über bloße Sozialkritik hinaus und stellt universelle Fragen nach dem Werden und Vergehen des Seins – und nach dem Anteil und Stellenwert, den Fantasie und fantastische Elemente im alltäglichen Leben haben.

Im Anschluss an die Lesung fand ein moderiertes Gespräch mit Annika Scheffel und der Wissenschaftlerin Julia Rössel statt, die Sozialgeografie an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz lehrt und 2014 ihre Studie „Unterwegs zum guten Leben? Raumproduktionen durch Zugezogene in der Uckermark“ veröffentlichte.

Begleitend zur Lesung war im Foyer der Kulturstiftung des Bundes eine Ausstellung mit fotografischen Arbeiten aus der Saarpfalz von Lea Bräuer und Moritz Jekat zu sehen.

 

12. April 2016
18 Uhr

Veranstaltungsort:
Kulturstiftung des Bundes, Franckeplatz 2, 06110 Halle an der Saale
Der Eintritt ist frei, die Platzzahl begrenzt.

Regina Scheer liest aus "Machandel"

Aus verschiedenen Perspektiven und mit mehreren Stimmen erzählt Machandel mosaikartig vom Leben in einem kleinen Dorf im Mahlstrom der Zeitläufte: Vom Nationalsozialismus über die Anfänge und das Ende der DDR bis hinein in die Gegenwart. Ein Generationenroman über Umbrüche und Unveränderlichkeiten, Hoffnungen und Enttäuschungen, Kämpfe und Verluste, Flucht und Erinnerung; und über ein allgegenwärtiges Märchen an einem idyllischen Ort, der nur vermeintlich abseits der großen geschichtlichen Ereignisse liegt.

Im Anschluss an die Lesung fand ein moderiertes Gespräch mit Regina Scheer und der Künstlerin Antje Schiffers statt, die sich in ihren Arbeiten mit dem ländlichen Raum als Ort kultureller Produktion beschäftigt.

Begleitend zur Lesung war im Foyer der Kulturstiftung des Bundes eine Ausstellung mit fotografischen Arbeiten aus der Schwäbischen Alb von Nicole Krüger und Iona Dutz zu sehen.



8. März 2016
18 Uhr

Veranstaltungsort:
Kulturstiftung des Bundes, Franckeplatz 2, 06110 Halle an der Saale
Der Eintritt ist frei, die Platzzahl begrenzt.

Katharina Hacker liest aus "Eine Dorfgeschichte".

Eine Dorfgeschichte ist ein Buch über das Erinnern an die eigene Kindheit im Sommer auf dem Land. Erzählt in lose zusammenhängenden, den Erzählfluss immer wieder unterbrechenden Erinnerungsfetzen, fängt die Geschichte die spezifische Atmosphäre einer mit kindlichen Augen erlebten Dorfwelt ein. Diese erscheint nur an der Oberfläche als Idylle. An ihr sind die Spuren der Vergangenheit zwar noch zu sehen, nicht jedoch zu verstehen: Die unbegreifliche Vergangenheit wird dadurch zur unheimlichen Gegenwart.

Im Anschluss an die Lesung sprach sie mit der Professorin Wiebke Loeper (Fachbereich Design, Projektkurs Fotografie, FH Potsdam ) über die Frage: „Wie macht man sich ein Bild von einer Region?“

Begleitend zur Lesung war im Foyer der Kulturstiftung des Bundes eine Ausstellung mit fotografischen Arbeiten aus Südniedersachsen von Charlotte Jadke und Franz Grünewald zu sehen.



9. Februar 2016
18 Uhr

Veranstaltungsort:
Kulturstiftung des Bundes, Franckeplatz 2, 06110 Halle an der Saale
Der Eintritt ist frei, die Platzzahl begrenzt.

Andreas Maier liest aus "Der Ort".

Der Ort ist der vierte Teil der auf elf Bände angelegten Familien- und Heimatsaga Ortsumgehung. Von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter begleitet Andreas Maier darin seine mitunter auch skurrilen Hauptfiguren in der Provinz – und erweitert beständig ihren Radius: Auf die Romane Das Zimmer (2010), Das Haus (2011) und Die Straße (2013) folgt nun also Der Ort (2015). Die Ortsumgehung ist dabei in allen Romanen eine doppeldeutige: Zum einen handelt es sich um eine Ortsumgehungsstraße, die die Menschen möglichst schnell durch die Provinz führen soll – und die auch Ausdruck einer fortschreitenden Modernisierung mit all ihren Folgen ist: Führt sie doch, genau betrachtet, an den Orten und Menschen vorbei und macht sie dadurch erst zu Randerscheinungen. Zum anderen geht es um die persönliche Ortsumwanderung des autobiografischen Ich-Erzählers. Dieser nimmt den Leser mit in die Imagination und Erinnerung einer vergangenen, ja eigentlich überholten, Lebenswelt mitten in der Provinz, dem Zentrum seines Heranwachsens und seiner Perspektive auf die Welt um ihn herum. Seit seinem Debütroman Wäldchestag wird Andreas Maier wie kein zweiter Autor mit einer Region verbunden, der Wetterau. Im anschließenden Gespräch mit Kenneth Anders, Gründer des Büros für Landschaftskommunikation im Oderbruch, ging es um die Frage, welchen Einfluss Region und Erzählen aufeinander nehmen.

12. Januar 2016
18 Uhr

Veranstaltungsort:
Kulturstiftung des Bundes, Franckeplatz 2, 06110 Halle an der Saale
Der Eintritt ist frei, die Platzzahl begrenzt.

Eine Veranstaltungsreihe im Programm "TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel."

Eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes und des Forschungsprojekts "Experimentierfeld Dorf" an der Martin-Luther-Universität Halle, das durch die Volkswagenstiftung gefördert wird.

Zum Forschungsprojekt (externer Link, öffnet neues Fenster)

Die begleitenden Ausstellungen zeigten ein Projekt der FH Potsdam, Fachbereich Design, Projektkurs Fotografie, Prof. Wiebke Loeper in Kooperation mit „TRAFO – Modelle für Kultur im Wandel“, eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes.

Kontakt

Karoline Weber

Kulturstiftung des Bundes

Franckeplatz 2

06110 Halle (Saale)

Tel.: 49 (0)345 2997 161

Fax: 49 (0)345 2997 333

E-MAIL an Karoline Weber

 

Marc Weiland

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Germanistisches Institut

Ludwig-Wucherer-Straße 2

06108 Halle (Saale)

Tel.: 49 (0)345 55 23 590

Fax: 49 (0)345 55 27 067

marc.weiland@germanistik.uni-halle.de