Was ist eigentlich Neue Musik?

Von Barbara Barthelmes

  1. Neue Musik wird heute als eine Art universale Kategorie der Kunstmusik des 20. Jahrhunderts gebraucht. Neue Musik bezeichnet aber keine klar umrissene Epoche und schon gar kein allgemeingültiges Stilmerkmal in dem Sinn, dass sich — vergleichbar den Entwicklungsstufen und Schulen der musikalischen Klassik oder Romantik — ein einheitlicher Kanon herausgebildet hätte, bei dem Hauptrichtungen und Seitenstränge, wegweisende Entwicklungen und Sackgassen endgültig zu unterscheiden wären. Benachbarte Begriffe wie moderne und zeitgenössische Musik oder gar musikalische Avantgarde bilden Schnittmengen innerhalb dieses Bedeutungsrahmens. In all diesen terminologischen Prägungen äußert sich die Anforderung der Aktualität und Zeitnähe, wird die Option auf das Experiment betont, artikuliert sich der Anspruch auf den innovativen, fortschrittlichen oder kritisch-subversiven Charakter der Musik des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart.
     
  2. In der Musikgeschichte markiert das Auftauchen der Musik, die als Neue Musik deklariert wird, die historische Schwelle um 1910, an der ihre verschiedenen Protagonisten das als abgeschlossene Epoche betrachtete 19. Jahrhundert endgültig hinter sich lassen wollten. Musikgeschichtlich verbindet sich der Bruch mit dem Vorangegangenen mit den Namen Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern, also mit der sogenannten Zweiten Wiener Schule. Aber auch die Protagonisten eines musikalischen Futurismus wie Luigi Russolo und Francesco Balilla Pratella oder singuläre Pioniere wie Edgard Varèse oder Charles Ives zählen zu den bahnbrechenden Neuerern. Ihre Innovationen betrafen alle Dimensionen des musikalischen Kunstwerks: Harmonik, Rhythmus, Klangfarbe, Dynamik, Form und nicht zuletzt den Werk- und Kunstcharakter der Neuen Musik selbst. Die Emphase, mit der einer Erneuerung das Wort geredet wurde, zielte eigentlich auf einen außermusikalischen, politisch-gesellschaftlichen Topos: die Revolution.
    Man sprach von Befreiung aus den Fesseln musikalischer Konventionen und akademischen Verkrustungen. Für den Hörer jedoch bedeutete das Neue zunächst die Aufkündigung einer Reihe von Konventionen und Hörgewohnheiten. Bisher war er daran gewöhnt, dass vorübergehend eingesetzte Dissonanzen stets zu ihrer Auflösung tendieren, dass aufgebaute Spannungen in einem Finale aufgehoben werden. Nun erlebt er das Fehlen eines harmonischen Bezugspunktes, der ihm Orientierung für sein Hören bietet. Statt wohl gefügter Tonkonstellationen brechen in Mikropartikel aufgesplitterte Töne, Klangtrauben und Cluster oder die Geräusche der Straße in seine musikalische Wahrnehmung ein. Mit dem Ende des traditionellen harmonischen Systems gingen auch die Form bildenden Kräfte verloren, die zuvor die zielgerichtete Dramaturgie der Sinfonie oder Sonate bestimmt hatten. Statt dessen wurden neue Möglichkeiten der Formgestaltung erprobt: sich auflösende, kurze, aphoristische Formen, Klangcollagen und -montagen, bewegte Klänge im Raum, unterstützt von der sich rasant entwickelnden Technik der Klangproduktion und -reproduktion, akustische Readymades und vieles andere mehr. Auch die passive Wahrnehmungshaltung wurde attackiert: Erik Satie fordert den Hörer auf, sich aus seinem Sessel zu erheben, herumzulaufen, in der Musik nicht mehr das Erhabene oder Erhebende zu suchen, sondern sie als Ornament, als Klangtapete wahrzunehmen. Der Bruch mit den musikalischen Traditionen offenbarte ein Dilemma der Neuen Musik: Nach dem Ende allgemein verbindlicher Hörkonventionen, die das Verstehen der Musik ermöglichten, produzierte der Komponist in jedem seiner Werke ein neues, eigenes Sinngefüge, das nun der besonderen Vermittlung bedurfte. Nicht wenige Komponisten sehen sich seither gezwungen, den Code, Erklärung und Analyse ihrer Musik gleich mit zu liefern.
     
  3. Lässt sich die Musikgeschichte der Neuen Musik zwischen 1910 und dem 2. Weltkrieg noch in der Art der klassischen Musikhistorie durch die Konstruktion einer Komponisten-Genealogie darstellen, als in sich schlüssige Aufeinanderfolge von Stilen oder als permanente Erweiterung und Fortentwicklung musiksprachlicher Mittel, so verweigert sich die Entwicklung in heutiger Zeit einer Repräsentation in linearen, übersichtlichen Ordnungen. Wollte man einen derartigen Versuch unternehmen, würde die Darstellung wohl eher einem vielfach verzweigten Netz, einem Rhizom oder einem Verkehrsplan gleichen.
    Die stetige Akkumulation an neuen musikalischen Erfindungen und das Anwachsen archäologischer Funde erforderten eine ständige Ausdehnung und Vernetzung des Territoriums bis hin zu den Peripherien. So führte eine Linie von Russolos bruitistischer Musik, seinen Geräuschtönern, über die Musik der elektroakustischen Musik zu all den Modellen und Experimenten mit neuen elektronischen Instrumenten. Eine andere gegensätzliche Bewegung beinhaltet die Basteleien, ja sogar den Missbrauch der Consumer electronics, die vom Schallplattenschaschlick Nam June Paiks, dem Umfunktionieren alter Radios zu Musikinstrumenten bis zum Hardware Hacking führt. Die Strecke des Minimalismus kreuzte sich sowohl mit der New Complexity als auch mit populären Formen der Ambient Music und des Jazz. Man könnte auf diese Weise allseitige Verbindungen herstellen, die, obwohl im Prinzip antihierarchisch, einige Knotenpunkte aufweisen, von denen mehrere Wege ausgehen. Die Funktion eines solchen Knotenpunktes käme zum Beispiel John Cage zu, der wie kein anderer Künstler in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg bahnbrechende Entwicklungen, nicht nur in der Musik, in Gang gesetzt hat.
    Für das Publikum kommt angesichts dieses babylonischen Stimmengewirrs zur Verunsicherung der ästhetischen Konventionen noch der grundsätzliche Verlust der Gewissheit, was überhaupt Musik sei, hinzu. Diese „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas), die am Ende des vorigen Jahrhunderts gern als postmodern charakterisiert wurde, hat den Begriff des Neuen in Bedrängnis gebracht. Denn in einem Feld, das alle möglichen neuen Musiken gleichermaßen anerkennt, sind keine Abgrenzungen neu gegen alt mehr möglich. Die Vielzahl der möglichen neuen Musiken scheint auf das wertfreie bloße Anders-Sein hinaus zu laufen.
     
  4. Das Bild eines ästhetischen anything goes in der Neuen Musik, zu der der normale Hörer zudem nur schwer Zugang findet, korrespondiert dem Topos von ihrem Enklaven-Dasein, mit dem Zerrbild vom Elfenbeinturm, in dem die Neue Musik produziert und rezipiert wird. Es schränkt sie, trotz ihrer Vielfalt und Lebendigkeit auf ein unübersichtliches, befremdliches und vom allgemeinen Musikleben eigentümlich abgesondertes Territorium ein, das nur wenigen Spezialisten vorbehalten ist und das zu verstehen besondere Kenntnisse erfordert.
    Aber stellt nicht genau diese Situation — die Aufsplitterung in einen Stilpluralismus und in Folge dessen auch in multiple Hörhaltungen / Rezeptionsweisen — eine Entlastung des Hörers dar? Trotz ihres teils äußerst artifiziellen Backgrounds, der Vielfalt ihrer ästhetischen Prämissen und oftmals ausufernden Selbstreflexivität ist die Neue Musik wie jede andere Musik in erster Linie ein klangsinnliches Phänomen. Die Ebene der primären ästhetischen Erfahrung — das Hören — stellt nicht nur einen legitimen Zugang zur Neuen Musik dar, sie könnte auch einen dem musikalisch Neuen adäquaten Weg zum Verstehen jenseits der Konventionen eröffnen. Zumal die Neue Musik, vor allem in ihrer jüngsten Geschichte, immer wieder selbstkritisch versucht hat, die Grenzen zu überwinden, in die sie durch eine puristisch enge Auffassung vom musikalischen Kunstwerk eingeschlossen war. Sie hat sich sowohl der Alltagswirklichkeit der Menschen, den profanen klingenden Dingen zugewandt und die Art und Weise des Hörens, die Bedingungen wie Potentiale akustischer und visueller Wahrnehmung in ihren Schöpfungen mit berücksichtigt. So ist die Grenzziehung zwischen U und E, zwischen unterhaltendem und ernstem Genre aufgeweicht worden und es sind musikalische Genres entstanden, die es wenig kümmert, ob sie als Pop oder Kunstmusik rezipiert werden. Auch die Übergänge zu den Nachbarkünsten, der Bildenden Kunst und der Architektur sind geöffnet worden und haben neue Zugangsweisen zur Musik möglich gemacht. Organisierter Klang wird in reale Räume projiziert; Klangenvironments entstehen, die mit einem aktiven, den Klangraum erforschenden Hörer rechnen. Musik und Bild haben sich auf eine noch nie da gewesene Weise verknüpft: Kompositionen, die explizit in Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst entstehen; Geräuschmusiken, die es auf eine Art Kino im Kopf anlegen; Synthesen von Klang und Bild, in denen die Musik die Bilder generiert und umgekehrt und die ohne die Erfahrung des Films, des Videoclips und der Video- bzw. Computerkunst nicht denkbar wären. Im Umgang mit neuester Musiktechnologie hat auch die Musik neue Formen erfunden, die vom Ausloten der Möglichkeiten der Klangsynthese, des Sampling bis hin zum Hardware Hacking und Media Bending reichen.
     
  5. Neu im Kontext der neueren Musikgeschichte kann nicht mehr als jeweils neuer Endpunkt einer Entwicklung, als Fortschritt aufgefasst werden. Gleichzeitig soll sich das Neue nicht allein im Anders-Sein erschöpfen. Neue Musik lässt sich am ehesten als eine nicht-normative, offene musikalische Praxis beschreiben: Eine künstlerische Praxis, die bislang Nebensächliches, Unbeachtetes, Wertloses und Profanes zum Gegenstand künstlerischer Formung werden lässt und ihm so den Status von etwas Wertvollem verleiht, ihm Kunstcharakter gibt. Betrachtet man die verschiedenen Interpretationen des musikalischen Materials, der Instrumente, der musikalischen Form, die die Musik der letzten hundert Jahre hervorgebracht hat, so spricht einiges dafür, Neue Musik endlich als ein Angebot für ein großes Publikum anzuerkennen.

Über die Autorin

Barbara Barthelmes ist Musikwissenschaftlerin und seit 2007 im Netzwerk Neue Musik der Kulturstiftung des Bundes als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig

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