Twilight oder die Wiederkehr der Untoten

Wolfgang Frühwald

Die Untoten kommen. Ein Vampirroman nach dem anderen stürmt die Bestsellerlisten. Klassiker der Weltliteratur erfahren bizarr anmutende Erweiterungen durch Menschen fressende Monster und wiederauferstehende Tote. Fernsehserien erzählen aus der Perspektive untoter Protagonisten und Zombiefilme erfahren ausführliche Würdigung in den Feuilletons der wichtigsten Zeitungen. Was hat es mit dieser Aufwertung eines bislang eher randständigen Bereichs kultureller Produktion auf sich? Die Kulturstiftung des Bundes wagt eine These: Könnte das alles mit einer Veränderung und Ausweitung unserer Begriffe von L e b e n zu tun haben? Der Verwirklichung des alten Menschheitstraums, Krankheit und Schmerz, Alter und Tod zu überwinden, scheint die biotechnologische Entwicklung auf unheimliche Weise näherzukommen. Dem medizinischen Fortschritt korrespondieren Albträume von Existenzen, die weder wirklich leben noch wirklich sterben können. Ein von der Kulturstiftung des Bundes initiiertes Themenfestival mit Vertretern aus den Wissenschaften, Medizin, Ethik und Kunst erforscht im Frühjahr 2011 diese Zusammenhänge. Wolfgang Frühwald präsentiert aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Einsichten darüber, wie die bereits alltäglichen und die möglichen Folgen der Biotechnologisierung des Lebens mit der Untoten-Konjunktur in Film, Literatur und Popkultur zusammenhängen.

Die amerikanische Twilight-Saga

Das Twilight: New Moon Alice Cullen Girlie-Shirt, das im Internet für 19,90 Euro angeboten wird, fällt laut Prospekt etwas kleiner aus. Also sollte man aufpassen, welche Größe man bestellt. Immerhin entspricht hier XL der Konfektionsgröße 40, was für Teenager mit 14 oder 16 Jahren schon eine stattliche Kleidergröße ist. Mädchen dieses Alters sind das bevorzugte Publikum der international erfolgreichen Vampir-Tetralogie von Stephenie Meyer, deren erster Band Twilight 2005 erschienen ist, und deren zwei erste Bände (Twilight und New Moon) als Filme Welterfolge erzielten.

Sie haben bisher fast das Zehnfache der Produktionskosten eingespielt und ähnlich der Harry Potter-Hysterie bei Millionen Fans in vielen Ländern der Erde eine Art von Fieber ausgelöst. Es ließe den Grafen Dracula, das Urbild der literarischen Vampire (falls dies bei der blutlosen und daher nach Menschenblut gierigen Dämmergestalt überhaupt denkbar wäre), vor Neid erblassen. Die Feuilletons rätseln seit Ausbruch des Va m p i r f i e b e r s über die Ursachen, die Stephenie Meyers Tetralogie zu einer der meistverkauften Buchserien aller Zeiten und die nach ihren Büchern gedrehten Filme zu Kassenmagneten machten. 85 Millionen Exemplare sollen von Meyers mit dem Blut der Menschen agierenden, aber im Grunde blutleeren Büchern bisher verkauft worden sein. Das SZ-Magazin druckte am 31. Dezember 2009 ein Interview mit einer aus der Twilight -Fanseite t e a m- edward.net ausgesuchten sechzehnjährigen Schülerin, die New Moon achtmal im Kino gesehen hat, davon siebenmal in der ersten Woche. Die junge Frau konnte sehr genau benennen, warum sie diese Jugendbücher nicht nur einmal, sondern oftmals gelesen und den erfundenen Gestalten Zutritt zu ihrem Leben gestattet hat: Edward, der freundliche Vampir, in den sich Bella, die Hauptperson in den ersten vier Bänden Stephenie Meyers, (im Wortsinne) unsterblich verliebt, ist der Schwarm aller jungen Mädchen. Ihm haftet etwas »Geheimnisvolles« an, das weit über das Geheimnis der erwachenden Sexualität und damit über die Erzählung in den Büchern und Filmen der Twilight -Saga hinausgeht. Er ist zunächst nichts anderes als die Verkörperung jener rigorosen Mormonenmoral, welche diese Bücher beherrscht. Denn Edward beschützt nicht nur die geliebte Bella vor den äußeren Gefahren des Lebens, er beschützt sie auch vor dem Blutdurst seiner Familie und seiner Freunde und durch eiserne Selbstbeherrschung sogar vor dem eigenen Triebleben, vor sich und vor ihr selbst.

Mag sein, dass Edward das Idol vieler Jungmädchenträume ist. Er bildet jedenfalls in Zeiten sexueller Freizügigkeit »das Andere« ab, das Rücksichtsvolle, das Liebevolle und Zärtliche, in einer Zeit lärmender Öffentlichkeit des Intimen auch das geheimnisvolle und leise Einverständnis der Liebe, im Zeitalter der nicht nur in Werbung und Mode aggressiven Sexualisierung des Alltags die scheue, darum umso tiefere Freundschaft, in Zeiten des in chat rooms und face books organisierten und merkantilisierten Soziallebens die der Welt und selbst den eigenen Eltern verschlossene Zweisamkeit. Der Filmkuss von Robert Pattinson (Edward) und Kristen Stewart (Bella) in Twilight wurde von den Nutzern des Kinoportals Moviepilot im Oktober 2009 zum Besten Kuss der Filmgeschichte gewählt, noch vor dem Kuss von Vivien Leigh und Clark Gable in Vom Winde verweht . Für eine gewisse Ironie selbst solcher Umfragen zeugt, dass der Filmkuss aus Walt Disneys Zeichentrickfilm Susi und Strolch immerhin den fünften Platz in diesem Wettbewerb errungen hat.

Edward ist 17 Jahre alt, und das — wie er im Film sagt — »schon länger«, Bella ist zu Beginn der Serie 16 Jahre alt. Edward ist ein Vampir und daher eine Gestalt der Dämmerung. Er ist im Zwielicht (twilight) angesiedelt, in dem des Tages ebenso wie in dem des Lebens, an jener Lebensschwelle, an der die Sexualität erwacht. In der Person Edwards wird die Pubertät gleichsam angehalten, die Sehnsucht nach einer erfüllenden Liebeserfahrung gewinnt in dieser Figur Dauer. In Edwards Geschichte mit Bella wird die Romeo und Julia-Liebe in der Traumwelt moderner Teenager befestigt. Extrem ansteckend sei das »Twilight-Virus«, meinte die Zeitschrift Freundin im November 2009. Es werde »von Untoten übertragen und [bringe] Teenies um den Verstand «. Wie der Vampirismus selbst, urteilte Tobias Kniebe (in der Süddeutschen Zeitung am 29. November 2009), sei »auch die aktuelle Fan-Hysterie eine Kettenreaktion, die durch Ansteckung übertragen [werde]; der Kinobiss des neuen Sexgotts Edward darf zwar seine zur Keuschheit verdammte Leinwand- Liebe nicht infizieren, für die Zuschauerinnen gilt dieses Gebot allerdings nicht«.
 

Die Rückseite der rationalistischen Kultur

Die Vampire neuester amerikanischer Machart sind dabei nur äußerlich in dem regenreichen, heute vom Fantourismus überlaufenen Städtchen Forks im US-Staat Washington, dem Wohnort der Vampir-Familie Cullen, angesiedelt, tatsächlich wohnen sie auf der romantisierenden Rückseite der rationalistischen Kultur, wie sie stets in Zeiten des Übergangs die Modernisierungen begleitet. Der Europa verheerende Hexenwahn, ein vor allem für Frauen und Mädchen tödlicher Aberglaube, entstand in der Frühen Neuzeit auf der Rückseite des humanistischen Zeitalters, gleichsam im Schatten der Entwicklung eines modernen Wissenschaftsverständnisses und seiner mechanistischen Weltbilder. Die Spukgestalten, die Golems, die Untoten, die Automatenmenschen und die entrückten Seherinnen der Schwarzen Romantik entstanden in napoleonischer Zeit, an der Schwelle des Industriezeitalters, auf der Rückseite der technischen Rationalität, eingehüllt in Dampf und Lärm des Maschinenzeitalters. Sie sind (bei Clemens Brentano, E.T.A. Hoffmann, Joseph von Eichendorff, Justinus Kerner und vielen anderen) Ausdruck der für die neuzeitliche Modernisierung typischen »Beschleunigung des Erfahrungswandels « (R. Koselleck), in deren Turbulenzen den Menschen die letzten ganzheitlichen Weltbilder abhanden kamen. Seither kann das Bild der menschlichen Person nur noch kaleidoskopisch (und schließlich surreal) zusammengesetzt werden, und der Blick in das zerfallende Ganze der Welt ist allein den Sehern und Magiern (sowie ihren Erben in der Science-Fictionund der Fantasy-Literatur) vorbehalten. Auch auf der Rückseite der rationalistischen Kultur unserer Tage sprießen seit etwa 50 Jahren die alten Spukgestalten neu aus dem Krater der Erfahrungs- und der Wissensexplosion. Im Kern sind sie unverändert, auch jetzt Ausdruck eines verbreiteten Wandlungsgefühls. Aber der Realität sind sie dadurch nähergestellt, dass heute die wissenschaftliche Phantasie der künstlerischen weit vorauseilt und die Fantasy-Thriller vom Schlag der Twilight -Serie nur eine dumpfe Ahnung von den tatsächlichen Möglichkeiten der mit biotechnischen und medizinischen Methoden zu erzielenden Veränderung der Welt und des Menschen vermitteln.

Die Twilight -Vampire (jedenfalls die Cullen-Family) unterscheidet von den Schattengestalten früherer Jahrhunderte ihre Gutmütigkeit, ihre dem Menschlichen (wohl nur scheinbar) nähere Selbstbeherrschung. Sie halten den Biss zurück, um das geliebte, ihnen sympathische Mädchen Mensch sein zu lassen, ehe es — im letzten Band der Serie — zum Schutz vor dem nahen Tod absichtlich zum Vampir gebissen wird. Die Vampire der Cullen-Familie sind — wie sie selbstironisch sagen — »Vegetarier«, weil sie sich ausschließlich von Tierblut ernähren und den Biss in den Menschenhals meiden. Demnach sind sie gleichsam politisch korrekte Vampire, die die Menschlichkeit in ihre Existenz als Untote zu integrieren suchen. Sie bilden ein neues Genre von Vampiren, zwar den Höhepunkt einer Welle von Vampirfilmen, die Tobias Kniebe auf etwa 3.000 schätzt, aber gleichzeitig auch einen Wendepunkt. Die Phantasiegestalten der Untoten nämlich rücken uns in diesen Figuren so auf den Leib, dass sie nicht mehr Abscheu und Schrecken erregen, sondern Lust und Verlangen. »Verkörperten sie früher meistens das schlechthin Andere (und sei es das abgespaltene Eigene), das bekämpft werden musste, so erkennt man in ihnen jetzt oft ein Fremdes oder Zukünftiges, das in seinen eigenen Rechten verstanden und respektiert werden kann.« (A. Klose) Anders ausgedrückt: In den literarischen und filmischen Untoten unserer Tage erscheint nicht mehr nur das, was die Kälte der rationalistischen Kultur ausblendet, also nicht nur das Triebhafte und das Bedrohliche, das Unterund Unbewusste in seiner ganzen übermächtigenden Gestalt, sondern auch eine Ahnung davon, dass die prophezeite, die offenkundig ersehnte und geplante Herstellung des perfekten Menschen in greifbare, das heißt technisch machbare Nähe gerückt ist. Wenn dies tatsächlich so ist, könnte uns ein Abschied von den seit Jahrtausenden vertrauten Menschenbildern bevorstehen, wie es ihn im geschichtlichen Wandel der Welt- und Menschenbilder noch nicht gegeben hat, keine Begriffs- und Bewusstseinsänderung mehr, sondern (wie George Steiner vermutet) eine Mutation. Die Untoten unserer Tage und ihr Massenerfolg signalisieren uns die langsame Gewöhnung an die im ozeanischen Prozess der Wissenschaft entstehenden, gentechnisch veränderten Wesen, die nur in populärer Literatur und im Kino (nicht in der Vorstellung der Wissenschaft) noch so aussehen wie wir.

 

Zwielicht der Romantik

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in der »Sattelzeit« der Moderne, war die künstlerische Phantasie der wissenschaftlichen noch weit überlegen. Vermittelt im Denken der Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt wurde die klassischromantische Sprache zum Nährboden der deutschen Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts. Der Weg von den Dämmerungen, den Nächten, den Mondaufgängen und dem Zwielicht der romantischen Malerei, ihrer Literatur und ihrer Musik, zur Psychoanalyse Sigmund Freuds und seiner tiefenpsychologischen Schule ist nur eine der Beispiellinien für diese Entwicklung. Die Mondnächte des Malers Caspar David Friedrich und seines Freundes, des Arztes Carl Gustav Carus, die gemalten Albträume Johann Heinrich Füsslis, die Traum- und Spukgestalten, die Doppelgänger und die Gespenster der romantischen Literatur sprechen allesamt von den gewaltigen Eindrücken, die aus der Entdeckung des menschlichen Innenlebens, seiner Ursprünge im Unter- und Unbewussten für die poetische Phantasie resultierten. Es war, als ob das Feld der menschlichen Erfahrung ins Unermessliche erweitert würde. Die Experimente mit der menschlichen Tiefenperson, die poetischen Konfigurationen starker psychischer Erregungen und Triebe drangen ein in bisher sorgfältig beachtete Tabuzonen und verletzten allzu oft auch die Grenzen der Personenwürde. Clemens Brentano zum Beispiel, der wohl klangreichste Lyriker deutscher Sprache, war überzeugt, dass die Hand der stigmatisierten Anna Katharina Emmerick, deren Visionen er jahrelang zu hören verlangte und anschließend aufgezeichnet hat, auch nach dem Tod der Seherin noch Heiliges von Profanem werde unterscheiden können. So hat er die Linumer Pfarrerstochter Luise Hensel angestiftet, zusammen mit dem bestochenen Totengräber die Leiche Anna Katharina Emmericks auszugraben, um ihr die Hand abzuschneiden und ihm zu übergeben. Nur weil Luise Hensel vor dem Anblick der exhumierten Leiche erschrak, weil das Leichengesicht schon von Schimmel überzogen war, wurde der tote Körper nicht verstümmelt und sogleich wieder bestattet. Die Menschenexperimente der Romantik fanden hauptsächlich in der Phantasie statt.

Die wissenschaftliche Entdeckung der Nachtseiten der menschlichen Natur, der lebenssteuernden Einflüsse des Unter- und Unbewussten, ist ohne romantische Vorläufer nicht zu denken. Auf dem Weg von der Kunst zur Wissenschaft, auf dem Weg von der Poesie zur experimentellen Psychologie, zu Psychotherapie und Psychiatrie, begegnen uns die Untoten, die Vampire und die Triebgestalten als Schattenfiguren des von Novalis so benannten »Gemüts «, der inneren Welt in ihrer Gesamtheit. Sie sind allesamt Konfigurationen »der ungeheuren Fülle an unbewussten Leistungen, die das Gehirn erbringt, ohne dass die entsprechende Person überhaupt einen introspektiven Zugang zu ihnen finden könnte« (M. Jung). Wer von populären Lese- und Kinostoffen, wie etwa der Twilight -Saga, auf diese Entwicklung zurückschaut, wird es nicht verwunderlich finden, dass er dort Jungen und Mädchen an der Schwelle zum Erwachsensein begegnet (im Heinrich von Ofterdingen des Novalis, bei seinem Freund Ludwig Tieck, im Florio von Joseph von Eichendorffs Erzählung Da s Ma rmor bi ld etc.), dass er von Pollutionsträumen liest und von allen Anfechtungen, denen die junge Liebe im Bann der erwachenden Sexualität ausgesetzt ist. Doch erstaunlich ist, wie sich in der modernen Populärkultur Entwicklungen spiegeln, die einst (seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) aus der Volksliteratur in die Hochliteratur eingedrungen sind und nun offenkundig zu ihren Ursprüngen zurückkehren. Clemens

Brentano hat die fressende Sehnsucht des Untoten an sich selbst erfahren. Er hat die trauernde Liebe der verlassenen Frau in die Gestalt der Lorelei gebannt, die den Männern zum Verhängnis wird. Erst Heinrich Heine hat dieses von Eichendorff in eine Hexe verwandelte Abbild der Männerangst vor übermächtiger Frauenliebe in einen Naturmythos übersetzt. Brentano hat die unstillbare, ruhelose erotische Lust, der er bis ins Alter verfallen war, als eine Lebenslast empfunden und sie deshalb im Bild der wandelnden Leiche gefasst, vor der sogar der Tod schaudert:

 

» Der Tod flog auf aus der Wüste,

Und schauderte, da ich ihn grüßte,

Und floh, da rief ich ihm zu,

Dass einer hier sterben müsste,

Er schrie mir: Erst lebe du!

 

Denn sterben heißt Ruhe erwerben

Drum kannst du nicht leben nicht sterben

Der Durst ist unendlich in dir,

Dein Erbteil, das will ich nicht erben

So schrie er, und eilte von mir.«

 

In dem Augenblick, in dem sich die verführerischen Venusgestalten der poetischen Phantasie, ihre im Zwielicht erscheinenden Figurationen von Liebestrug, Eifersucht und Heimtücke, mit den Technikängsten der Moderne verbinden, entstehen nicht nur die scheinlebendigen Automatenmenschen E.T.A. Hoffmanns, sondern (schon im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts) auch die kunstvollen Lebensautomaten des französischen Mechanikers Jacques de Vaucanson: sein Flötenspieler etwa und zumal die laufende, schnatternde, fressende und trinkende mechanische Ente, die alles das, was sie zu sich nimmt, auch verdaut und entsprechend stinkend wieder von sich gibt. Hans Magnus Enzensberger hat sie 2002 zum Abbild eines »stinkenden«, dem Menschen nutzlosen Fortschritts gemacht. Schließlich ist schon Goethes Homunculus im Fau s t, der künstlich erzeugte Mensch, ein Produkt des platten Verstandes und der dämonisch-lüsternen Neugier, ein Produkt von Wagner und Mephisto, die gemeinsam den Weg der Natur verlassen, um das Labor (die Zeugung im Glas, in vitro) an die Stelle der Liebesnacht zu setzen. In der Konsequenz dieser Denklinie hat Goethe auch die Vision des selbst denkenden Computers erschaffen, der »künftig« den lebendigen Menschen ersetzen wird:

 

»Ein großer Vorsatz scheint im Anfang toll,

doch wollen wir des Zufalls künftig lachen,

und so ein Hirn, das trefflich denken soll,

wird künftig auch ein Denker machen.«

 

Transhumanismus

Die Dämmer-Gestalten Stephenie Meyers gehören (mit Ausnahme ihrer politischen Korrektheit) zum größten Teil noch den älteren androiden Angstbildern zu, dem Geschlecht der Homunculi, der Automatenmenschen, der Golems, der Vampire und der Frankensteins. Von den wissenschaftlich erzeugten, untoten Angstfiguren unserer Tage sind sie unterschieden. Gundolf S. Freyermuth hat die gegenwartsnahen, je nach Perspektive als Visionen oder als Schreckgestalten aufzufassenden, »trans- oder posthumanen« Zukunftsmenschen als reine Datenwesen beschrieben. In ihnen manifestiere »sich die Befreiung des Geistes aus dem Gefängnis des sterblichen Körpers«. Demnach sind sie Ausdruck einer letzten »Dezentrierung« des Menschen, bei der vorstellbar ist, dass der bereits weit gediehenen biotechnischen Änderung des Genotyps die des menschlichen Phänotyps folgt. Als Dezentrierungs-Vorgänge nämlich hat Jürgen Habermas die schon von Sigmund Freud gefundenen Wandlungsvorgänge der Moderne beschrieben, die Kopernikanische Wende, welche die Erde aus dem Mittelpunkt der Galaxie genommen hat, die darwinische, welche den Menschen aus der Mitte des Lebens vertrieben und an die Kette seiner tierischen Vorfahren gelegt hat, die freudianische, welche das Triebleben rehabilitiert und auch die erhabenen Gefühle des Menschen an das Unter- und Unbewusste gebunden hat. Nun könnte es sein, dass eine letzte Dezentrierung bevorsteht, die biotechnisch erzeugte Abwendung des Menschen von seinem eigenen Leib. Diese Abwendung aber ist verbunden mit der Reduzierung des Menschen auf seine Gehirninhalte. Sie werden »in Form digitaler Speicher hochgeladen […] und [führen] auf diese Weise zu neuen Existenzformen […]. Man geht von der Leistung informationsverarbeitender Systeme aus, denkt sie sich ins Unermessliche gesteigert und identifiziert das Ganze mit einer nicht mehr zu überbietenden Optimierung des Menschen« (J. Mittelstraß).

Der alte Menschheitstraum von ewiger Jugend ist kein Traum vom Überleben der menschlichen Spezies, sondern ein Traum von individueller Unsterblichkeit und einem Jungbrunnen, durch den ewige Schönheit und Lebenskraft geschenkt ist. Er soll in den heute »transhumanistisch« genannten Phantasien endlich Wirklichkeit werden. Doch um welchen Preis? Um den der Erzeugung untoter Bewusstseinsinhalte ohne körperliche Basis, um die Erschaffung einer Welt, in welcher der Mensch weder Abbild eines allmächtigen Schöpfers ist, noch seiner selbst, sondern einer intelligenten Rechenmaschine. Es ist kein Zufall, dass an die Stelle des Herzens, des Zentralwortes klassisch-romantischer Literatur, nunmehr das Hirn getreten ist, das holistische und doch in Areale unterteilte, reale und metaphorische Zentralorgan des Menschen. Vor der (zumindest gedachten) Reduzierung des Menschen auf ein bloßes Datenwesen aber gibt es noch eine Phase des technisierten Jungbrunnens, die den Tod — das eigentlich Reale des Lebens — zu überlisten sucht: den Körper- Bluff, der mit medikamentösen, chirurgischen und technischen Mitteln ewige Jugend vortäuscht, da es in der Konkurrenz um Ansehen, Prestige und gesellschaftliche Anerkennung um keine anderen Werte mehr geht als um Sichtbarkeit. Der Grazer Soziologe Manfred Prisching hat die »Schönheitsverpflichtung« (scheinbarer Jugendlichkeit) als eine der Grundbedingungen der von ihm beschriebenen Bluffgesellschaft benannt, in welcher Täuschung und gelingender Schein so selbstverständlich geworden sind, »dass niemand mehr Scham empfindet, wenn sein Bluff auffliegt«. Auch für die (telegen begründete) Ideologie des guten Aussehens, für die Umbildung des menschlichen Körpers zu einer Fassade sind die nicht alternden Untoten der gefeierten Vampirserien eine geeignete Projektionsfläche. Erst wenn die Blutzufuhr nicht mehr garantiert ist, setzt der Verfallsprozess ein. Das allerdings könnte schneller real werden als es sich die Phantasie der Science Fiction-Autoren vorzustellen vermag. »In welchem Stadium«, fragt George Steiner, »wird ein Mann oder eine Frau nach Austausch seiner oder ihrer lebenswichtigen Organe und elektrochemischer Neuanregung seines oder ihres Bewusstseins in das eingehen, was man als ›das Bodynet‹ bezeichnet hat, und in einer Molekülkette, die theoretisch ununterbrochen sein könnte, zu einer Episode seiner oder ihrer früheren Inkarnationen werden?« Die Tiefenhirnstimulation, die zum Beispiel bei der Parkinson-Krankheit angewandt wird, hat — das wissen die Ärzte längst — Folgen für Ich-Bewusstsein und Identitätsgefühl der Patienten.

Bei einer Tagung am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld wurde unlängst nach den Folgen der unumschränkt herrschenden Heilungsethik für Menschenbild und Menschenwürde gefragt. Allein die aufgeworfenen Fragen, die Andeutung nahegerückter Forschungsmöglichkeiten zeichnen dabei ein Schreckensszenario der auf bloße Machbarkeit hingeordneten Zukunftsentwürfe. Bella Swan überlebt in der Twilight -Serie nur um den Preis, kein Mensch mehr zu sein. Kann dies als das genretypische happy ending einer solchen Buchreihe verstanden werden? Könnte dies, ganz unbeabsichtigt, auf die Zukunft unseres Fortschritts verweisen? Die moderne Heilungs- und Schönheitsethik ist nicht weit von solchen Phantasien entfernt. Sie arbeitet längst mit Gesichtstransplantationen, mit Hybriden- und Chimärenbildung, mit Gehirnprothetik und mit regelmäßig gespritzten Nervengiften zur Schönheitspflege. Auf dem Weg in den Unsterblichkeitswahn schreckt sie nicht vor der Vorstellung zurück, dass durch die Verpflanzung von neuronalem Gewebe »Wesen mit menschenähnlichen Empfindungen und Denkstrukturen entstehen [könnten], die im Körper eines Tieres leben müssten, oder umgekehrt Menschen bestimmte Eigenschaften eines Tieres implantiert« würden. Die Märchenphantasien, die Geschichten von La Bel le et la Bête , vom Froschkönig , von der Durchbrechung der Konstanz der Elemente, von den Scheintoten und den Untoten kehren damit als realistische Bauelemente eines Zukunftsmosaiks wieder, das nicht nur die Poeten erschreckt. Diese aber haben das Erschrecken zuerst artikuliert, so dass sich eine ganze Phalanx angesehener Schriftsteller (Durs Grünbein, Adolf Muschg, Hans Magnus

Enzensberger, Michel Houellebecq und viele andere) gegen die »Putschisten im Labor« gebildet hat. Sie verteidigen die Zerbrechlichkeit des Lebens und das Sterben-Dürfen als ein Wesensmerkmal des Menschen. Sie verteidigen den Menschen als die von Houellebecq betrauerte Spezies, die zwar alle Voraussetzungen geschaffen hat, sich selbst abzuschaffen, aber wenigstens als Bild der Erinnerung in den medizinisch- und biologisch-technischen Zukunftsentwürfen noch lebendig bleiben sollte. Sie verteidigen die Menschheit als jene »gequälte, widersprüchliche, individualistische, streitsüchtige Spezies mit grenzenlosem Egoismus, die manchmal zu Ausbrüchen unerhörter Gewalt fähig war, aber nie aufgehört hat, an die Güte und Liebe zu glauben«. Michel Houellebecq hat sein im Original Les particules élémentaires (1998) genanntes Buch »dem Menschen gewidmet«.

 

Literatur: Hans Magnus Enzensberger: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt am Main 2002 / Gundolf S. Freyermuth:Der Mensch muss weg. In den androiden Traumge stalten erkennen wir uns selbst. In: Die Welt, 16. November 2000 / Wolfgang Frühwald: Blaupausedes Menschen. Streitgespräche über die Beschleunigung der Evolution. Mit Beiträgen von Konrad Beyreuther, Johannes Dichgans, Karl Lehmann und Wolf Singer sowie einem Gespräch mit Durs Grünbein. Berlin 2009 / Wolfgang Frühwald: Die Zeit nach »Dolly« oder Vom Wande l der Menschenbilder unter dem Einfluss der Natur- und Technikwissenschaften. In: Günter Hager (Hg.): Beginn, Personalität und Würde de s Menschen. 3. Auflage. Freiburg und München 2009, S.537–567 / Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur . Auf dem Weg zu einer liberalen Eugeni k ? Frankfurt am Main 2001 /Michel Houellebecq: Elementarteilchen. Köln 1999 / Matthias Jung: Der bewusste Ausdruck. Anthropologie und Artikulation. Berlin und New York 2009 /Tobias Kniebe: Der vert ext et e Vampir. In: Süddeutsche Zeitung, 28./29. November 2009 / Julia Meyer-Hermann: Kennen Sie das Twilight -Virus? In: Freundin,18. November 2009, S.23 f. / Jürgen Mittelstraß: Am Ende die Unsterblichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. August 2009 / Neue Methoden der Medizin und ihre ethischen Implikationen. In: ZiF. Mitteilungen 1,2010, S.45–48 / Manfred Prisching: Die Bluffgesellschaft. In: Lichtungen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik 113/XXIX. Jg./2008, S.93–101 / Respekt, Sabine … In: Süddeutsche Zeitung Magazin, 31. Dezember 2009 / George Steiner: Grammatik der Schöpfung. München und Wien 2001 / Alexander Klose: Perfekte, normale und groteske Körper — gesellschaftliche Auswirkungen der Biotechnologien im Spiegel der Populärkultur. Mskpt. Berlin 2009

Über den Autor

Wolfgang Frühwald, Jahrgang 1935, ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturgeschichte an der Universität München. Er war von 1992–1997, in zwei Amtszeiten, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft und von 1999–2007 Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung. Derzeit arbeitet er an einem Buch über die Gegenwart Goethes in der Moderne.

Die Untaten - Kongress in Hamburg

Auf einem mehrtägigen Kongress im Mai 2011 auf Kampnagel in Hamburg will die Kulturstiftung des Bundes die ethischen Debatten über die medizinischen und lebenswissenschaftlichen Entwicklungen mit einem breiten Spektrum kultureller Produktionen aus Film, Literatur, Kunst und Popkultur konfrontieren.

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