Nostalgie und Hoffnung

Von Andrei Plesu

Die Kulturstiftung fördert mit ihrem Programm Mittel- und Osteuropa zahlreiche Projekte, die den Kulturaustausch zwischen den Ländern des östlichen und westlichen Europa fördern. Die Annäherung der vormals getrennten Teile Europas stellt eine der großen Herausforderungen der Gegenwart dar. Wie Andrei Plesu in seinem folgenden Essay betont, wird die Einheit Europas nicht durch die EU-Administration erlangt, sondern durch das gegenseitige Interesse der Europäer und ihre Bereitschaft, kulturelle Differenzen verstehen zu lernen.

Für die Staaten Mitteleuropas und Osteuropas haben die folgenschweren Ereignisse Ende 1989 zu entscheidenden Erkenntnissen geführt, die vordem kaum bewusst waren. Zunächst zur Feststellung, dass der Osten Europas nicht zu Europa gehört, präziser gesagt: dass seine Zugehörigkeit zu Europa von bestimmten überzeugenden Voraussetzungen nach strengen ökonomischen, juristischen, gesellschaftspolitischen Kriterien usw. abhängt. Auf beiden Seiten bestand die leicht naive Ansicht, dass es der Eiserne Vorhang sei, der den Westen vom Osten trennt und dass nach seiner Überwindung ein homogenes Europa von selbst Normalität werde. Die Realität hat jedoch erwiesen, dass nach fünfzigjähriger Entzweiung nicht mehr von ‹Einheit›, sondern nur noch vom Wunsch nach Wiedererlangung der verlorenen Einheit die Rede sein konnte. Noch gravierender für den Osteuropäer war eine neue und unerwartete Erfahrung, hatte er doch geglaubt, dass es wenigstens jenseits des Eisernen Vorhangs ein einheitliches Europa gebe und dass er nach Ausbruch aus dem sozialistischen ‹Lager› große, solidarische, durch gemeinsame Wertvorstellungen und Strategien verbundene Nationen vorfinden würde. Dass krasse Divergenzen zwischen Frankreich und Italien bestehen, dass in Spanien ein anderes Weltverständnis herrscht als in Belgien, dass Deutschland etwas völlig anderes ist als Großbritannien, war einfach unvorstellbar. Unvorstellbar aber auch, dass das westliche Europa geneigt ist, sich eher gegen die Vereinigten Staaten als gegen die Russische Föderation und gegen die Volksrepublik China abzugrenzen. Ergebnis all dieser — und manch weiterer — Erfahrungen war die Einsicht, dass trotz unzähliger Gemeinsamkeiten auch die bestehenden Divergenzen nicht unterschätzt werden dürfen. Die europäische Integration hängt folglich nicht allein von der Wiederherstellung der Gemeinsamkeiten, sondern ebenso von einer klugen Harmonisierung der Unterschiede ab. Denn letztlich trachten wir nicht nach einem gleichmacherischen Paradies, in welchem der Zauber der Identität bis zur Unkenntlichkeit verblasst, und wenn von Europa, einem generischen Europa, die Rede sein soll, müssen wir zunächst sicherstellen, dass wir unter dem gleichen Wort auch die gleiche Sache verstehen. Eine funktionale Wiederbegegnung des Westens mit dem Osten ist undenkbar ohne Begegnung der östlichen Idee von Europa mit der Idee der westlichen Welt von Europa.

Kultur versus Zivilisation

Der Osteuropäer verbindet ‹Europa› in erster Linie mit dem Begriff Kultur; mit gemeinsamer Herkunft aus mediterranem Raum, mit gemeinsamer Geschichte von Skandinavien bis Sizilien, von Irland bis zum Ural, mit gemeinsamer Mentalität in den jeweiligen Beziehungen zum Universum der Lektüre, in der Transzendenz, im Drang nach Erkenntnis, bei Distanzierung gegen die außereuropäische Welt. Im Westen hingegen scheint sich in den letztvergangenen Jahrzehnten ein anderes Konzept von ‹Europa› durchgesetzt zu haben; weniger durch ‹Kultur› im Sinne klassischer Terminologie als durch ‹Zivilisation› definierbar. Europa ist ein Raum der Modernität, des wissenschaftlichen Fortschritts, des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus, der ‹aufgeklärten› Sitten, der effizienten Technokratie. Selbstverständlich hüten wir uns, diese beiden Anschauungen in ein hierarchisches Verhältnis zu setzen, das heißt, die eine der anderen vorzuziehen.
In der Tat sollte die ‹Definition› Europas von heute vom komplementären Verhältnis zwischen Kultur und Zivilisation ausgehen, das heißt die westliche und die östliche Auffassung wieder vereinigen. Wie die Wirklichkeit zeigt, driften sie eher auseinander als sich einander zu nähern. Der Osten orientiert sich, altmodisch, mehr an Kultur und Geschichte, während der Westen auf eine pragmatische Rationalität ausgerichtet ist, auf optimale Administration, auf konstruktiven Dynamismus, mit anderen Worten: in die Zukunft blickt. In östlicher Sicht setzt die Zugehörigkeit zu Europa in erster Linie die Rückbindung an Werte, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Willkürherrschaft zum Opfer fielen, voraus. Aus westlicher Sicht hingegen kommt es nicht auf die Wiederherstellung des ‹gewesenen›, sondern auf den Aufbau eines neuen Europa, eines Europa ‹von morgen› an, eines fraglos respektablen, eigenständigen, das jedoch vor allem auf ‹Künftiges› achtet. Das Bild des Osteuropäers von Europa ist geprägt von Nostalgie, nach ‹Rückkehr› der ‹guten alten Zeiten›. Im Gegensatz dazu ist für den Westen die Hoffnung der Orientierungspol; für den Westen kristallisiert sich die Idee Europa nicht an Erinnerungen, sondern an Projekten. Und beide Visionen haben ihre Vorzüge und ihre Risiken. Der Osten hat ein besseres Verhältnis zur Erinnerung, neigt jedoch zu exzessivem, zeitfremdem Konservatismus. Der Westen ist tonischer, nüchterner, begünstigt jedoch die Utopie, die Entwurzelung. Zum Osten gehört der Kult mit alten Fotografien, das Verharren in romantischem Halbschatten. Der Westen hingegen schwärmt für sciencefiction, erliegt dafür leicht Ideologien des Triumphes und luziferischen Exaltationen.

Wohin mit dem Gestern?

Geht es um die Vergangenheit, geht es dem Westen um realistische, kritische, nichts beschönigende Aufarbeitung. Die Vergangenheit muss entmystifiziert, ihre Fehler müssen korrigiert werden. Dafür steht die Vergangenheitsbewältigung — ein ursprünglich die ‹Dekonspiration› der jüngeren Vergangenheit benennender und die ehrliche Einsicht in ihre Irrtümer implizierender Begriff —, gültig für die generelle Einstellung des okzidentalen Europa der Vergangenheit gegenüber. Die Vergangenheit muss systematisiert, gebändigt werden zum Nutzen der Gegenwart. Um die Einstellung des Ostens gegenüber der Vergangenheit zu definieren, müsste man einen neuen, speziellen Begriff erfinden, sagen wir ‹Vergangenheitsbewertung› — zur Hortung und liebevollen Nutzbarmachung des ‹Alten›. Das Prestige des Alten gehört zu den Komponenten der dramatischen Identitätssuche der osteuropäischen Nationen; im Allgemeinen zermürbt von einer prekären Gegenwart und verunsichert angesichts einer ungewissen Zukunft, suchen sie in ihrer Vergangenheit Refugium und Rechtfertigung. Für die Westler ist die Vergangenheit museal, für den Ostler ‹existenziell›.
Gelingt es uns, Minderwertigkeitskomplexe und Überlegenheitskomplexe, juvenilen Konkurrenzeifer und historische Vorurteile aller Art zu überwinden, dann wird es uns nicht schwer fallen zu begreifen, dass Europa, ein nicht allein in Währung und Legislative geeintes Gesamteuropa, in gleichem Maß der für beide Hälften gültigen Visionen bedarf. Es ist notwendig, die Übel der Vergangenheit zu exorzieren, doch ebenso ihrer rühmlichen, zumindest pittoresken Epochen zu gedenken. Notwendig sind innovativer Geist, doch ebenso bewahrende Geduld. Managerkühnheit wie Kontemplation. Antizipierende Träume wie Erinnerung. Hoffnung wie Nostalgie. Der Osten muss den Zauber jugendlichen Vorausschauens wieder entdecken, muss sich mobil machen für eine Einheit schaffende Perspektive. Der Westen muss den Geschmack für Tradition, die Muße für Rückschau und Rückbesinnung wiederfinden.
Zur Erreichung der Wiederbegegnung der einst durch den ‹Eisernen Vorhang› voneinander getrennten komplementären Hälften muss auf beiden Seiten der kognitive Appetit im Blick auf die jeweils ‹andere› energisch geweckt werden. Im Osten wie im Westen muss das Bedürfnis nach reziproker Wahrnehmung erheblich vertieft, das heißt die humane Sympathie und das intellektuelle Interesse für die entfremdete Hälfte gestärkt werden. Von Karl Marx stammt ein berühmter Satz, der sich — aus dem Mund eines Philosophen — recht befremdlich ausnimmt: «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden ‹interpretiert›, es kommt darauf an, sie zu ‹verändern›.» Das Europa von heute muss sich auf die Utilität der umgekehrten Wahrheit besinnen. Das Problem besteht nicht in der Bemühung, uns gegenseitig zu ändern, sondern in der Befähigung zum Verständnis und zu korrekter Interpretation, Akzeptanz und Respektierung der zwischen uns bestehenden Differenzen — wobei zu präzisieren bleibt, dass ‹Verstehen› nichts weniger meint als vernünftige Systematisierung oder oberflächliches Versöhnlertum. ‹Verstehen› bedeutet eins zu werden mit dem, was du verstehen willst. Dieser ‹Einheit› allein muss unser Trachten dienen. Alles andere ist lediglich Administration.

Übersetzung aus dem Rumänischen: Paul Schuster

Über den Autor

Andrei Plesu ist Rektor des New Europe College in Bukarest. Von 1989 bis 1991 war er Kulturminister und von 1997 bis 1999 Außenminister von Rumänien.

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