Liberté, egalité, animalité

Ein (Anti-)Schlachtruf von Anne Peters

Das geltende Recht lässt die massenhafte Gewalt gegen Tiere zu, es hätte aber auch das Potenzial, die Ausbeutung und Auslöschung von Tieren zu bekämpfen und zu beenden, und zwar weltweit. Bei der Ausformulierung von Tierrechten hilft die Orientierung an der Entwicklung der Menschenrechte.
 

Menschen im Zoo


„Zwischen 1879 und 1935 wurde das Basler Publikum mit sogenannten Völkerschauen im Basler Zoo unterhalten. In diesen Darbietungen wurden außereuropäische Menschen in traditioneller Kleidung gezeigt. Diese Schauen zogen damals mehr Besucher an als die Tiere des Zoos. Die Organisatoren der Völkerschauen waren in der Regel Tierhändler und Zoodirektoren. Die zur Schau gestellten Menschen wurden oft aus dem Sudan rekrutiert, einer Region, in der der auch die meisten afrikanischen Zoo- und Zirkustiere gefangen wurden. Die Organisatoren achteten darauf, dass die ausgestellten Individuen keine europäische Sprache beherrschten, so dass eine verbale Kommunikation zwischen den Zoobesuchern und den Ausgestellten unmöglich war. Geburten und Babys waren als Publikumsmagnet willkommen. Die Geschäftskorrespondenz befasste sich mit den Abläufen bezüglich der menschlichen Ausstellungsobjekte (ihrem Schiffstransport usw.) in den gleichen Worten wie mit den Tieren. Ein Zooplakat pries die „aussterbenden Lippennegerinnen” an. Die Basler Nachrichten vom 18. Juni 1887 schrieben: „Vor ihren Hütten kauern halbnackt mehrere braune Gestalten, in ihrer Körperentwicklung, dieser Umgebung und dieser Draperie stark an das Affengeschlecht erinnernd.”

Dieses zeitlich nicht allzu weit zurückliegende Freizeitvergnügen schockiert uns Heutige. Warum aber schockierte die Zurschaustellung von Menschen in Zoos vor 75 Jahren nicht? Und warum stellen wir bis heute Zootiere kaum in Frage? Unsere Auffassung von Menschenwürde hat sich offenbar in den letzten Jahrzehnten extrem dynamisch entwickelt. Eine Völkerschau der beschriebenen Art wäre in Europa undenkbar, sie würde gesetzlich verboten oder von Gerichten für menschenrechtswidrig erklärt. Ist es zu wünschen, und ist damit zu rechnen, dass wir in abermals 75 Jahren mit ebensolchem Befremden an eine historische Praxis der Gefangenschaft von Tieren in Zoos und Zirkussen zurückdenken werden, eine Praxis, die wegen der Verletzung von Freiheitsrechten und Würde der Tiere verboten wurde?

 

Das Kontinuum zwischen Mensch und Tier und die Kluft im Recht


„Animalité“? Verfolgen wir die einschlägigen Diskurse in der Philosophie, Anthropologie und Zoologie in der Ideengeschichte zurück, so stellen wir fest, dass unzählige Kriterien zur Markierung einer Kluft zwischen homo und animale, als differentia specifica des Menschen, herangezogen wurden, um dessen Sonder- und Höherstellung im Kreise der Lebewesen zu rechtfertigen. Diese bezogen sich auf Kognition und Selbst-Bewusstsein (Vernunft, Sprechfähigkeit, Werkzeuggebrauch, Werkzeugherstellung usw.), auf soziale und schließlich auf moralische Fähigkeiten (Mitgefühl über Speziesgrenzen hinweg, Weitergabe erlernter Techniken, d.h. Kultur). Das Merkmal einer unsterblichen Seele ist der intersubjektiven Nachvollziehbarkeitsprüfung nicht zugänglich. Alle anderen behaupteten Alleinstellungsmerkmale sind durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse nach einiger Zeit als ungültig entlarvt worden.

Gebietet nun das Eingeständnis, dass in Wirklichkeit der Übergang zwischen Mensch und Tier fließend ist, eine neue Art von Solidarität („fraternité“)? Eine Solidarität, die sich nach der etappenweisen Erweiterung der Rechtsgemeinschaft auf Besitzlose, Frauen, Kinder, Ausländer und so weiter, also auf Gruppen, die nach der französischen Revolution zunächst nicht in den Genuss von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit kamen, auch auf empfindungs- und erlebensfähige Tiere erstrecken sollte?

Aus dem bloßen Faktum des biologischen (und kulturellen) Kontinuums (gemeinsame Vorfahren, gemeinsames Genom, gemeinsame Eigenschaften und Verhaltensweisen) zwischen nicht-menschlichen und menschlichen Tieren können keine ethischen Gebote über die menschliche Interaktion mit Tieren „abgeleitet“ werden. Aber unser Moralverständnis wird unter anderem durch unsere Reflexion über wissenschaftliche Daten geformt. Wir können sinnvoll fordern, dass das Kontinuum im Recht gespiegelt werden sollte.

Im Gegensatz dazu ist das geltende Recht von einem deutlichen Bruch gekennzeichnet: Ein hochdifferenzierter Korpus von nationalen und internationalen Menschenrechten steht in krassem Kontrast zum fast völligen Fehlen von Regeln in Bezug auf Tierwohlfahrt. Zwar haben vor allem europäische Staaten, die EU und der Europarat, insbesondere seit den 1980er Jahren Rechtsnormen über die Behandlung von Tieren (Artenschutz, Transport, Schlachtungen, Tierhaltung, Haustiere) erlassen. Tiere sind jedoch nur als Schutzobjekte, nicht als Rechtsträger anerkannt. Außerdem lässt das geltende Tierschutzrecht die alltägliche massenhafte Gewalt gegen Tiere nach wie vor zu.

 

Die Legalisierung von Gewalt gegen Tiere


Diese Gewalt ist konstituierend für die beiden wichtigsten Nutzungsarten von Tieren in heutigen Gesellschaften, nämlich Nahrungserzeugung und medizinisch/pharmazeutisch/chemische Tests. Die zweitgenannte Nutzung fordert mehr Kritik heraus, obwohl sie quantitativ minimal ist im Vergleich zur Lebensmittelproduktion: In der EU werden jährlich „nur“ 12 Millionen Tiere (davon 70 Prozent Mäuse) für die Forschung verbraucht. Demgegenüber werden weltweit 450 Milliarden Tiere in industrieller Massentierhaltung gehalten und nach Angaben der Food and Agricultural Organization (FAO) 58 Milliarden Landtiere jährlich geschlachtet; hinzu kommt schätzungsweise die gleiche Anzahl Meerestiere, wobei 80 bis 90 Prozent Beifang (tote oder sterbende Tiere) wieder ins Meer geworfen werden.

In westlichen industrialisierten Gesellschaften sind die aus Tieren gewonnenen Lebensmittel aufgrund der industrialisierten Produktion lächerlich billig. Die durchschnittlichen Ausgaben eines europäischen Haushalts für Lebensmittel betragen nur 10 Prozent, während noch in den 1950er Jahren ein Drittel bis die Hälfte des Haushaltseinkommens für Essen ausgegeben wurde. Der durchschnittliche europäische Verbraucher verlangt billige Produkte mit bestimmten Eigenschaften. Beispielsweise werden in der Schweiz (wie in anderen europäischen Ländern auch) die männlichen Küken der Legehennen unmittelbar nach der Geburt getötet, weil sie nicht als Fleischhuhn verkäuflich sind. Ruedi Zweifel, Direktor des Aviforums, des Kompetenzzentrums der schweizerischen Geflügelwirtschaft in Zollikofen sagt: „Der optische Aspekt spielt die entscheidende Rolle (…) Der Schlachtkörper heutiger Legehähne entspricht nicht den Erwartungen der Konsumenten. Er ist nicht herzförmig, sondern spitz.“ (Neue Zürcher Zeitung vom 23. März 2013). Die neugeschlüpften Schweizer Hähnchen − immerhin 2,5 Millionen pro Jahr − werden in der Regel „homogenisiert“, das heißt geschreddert, was nach der schweizerischen Tierschutzverordnung, einem der strengsten Reglements der Welt, ausdrücklich erlaubt ist.

Die Verordnung zur Kükenhomogenisierung ist nur eines der Beispiele dafür, wie das Recht die Ausbeutung, Diskriminierung und Auslöschung von Tieren ermöglicht und verfestigt. Dieser Einsatz des Rechts hat eine lange Tradition, nicht nur gegenüber Tieren, sondern auch gegenüber Menschen. Die Ausgrenzung des Anderen (die englische Sprache kennt hierfür den Ausdruck „Othering“), also etwa von Afrikanern, Juden, eingeborenen Völkern, wurde oft dadurch realisiert, dass der Andere aus der menschlichen Gemeinschaft erst verbal, außerdem juristisch und schließlich physisch ausgeschlossen wurde, und die Bezeichnung mit Tiernamen ist ein typischer Bestandteil dieser Strategien. Nazis nannten die Juden Ratten, Europäer und US-Amerikaner titulierten Schwarze oder Japaner als Affen. Die Hutu bezeichneten die Tutsi als Kakerlaken. Eine andere ver-tierlichte Gruppe waren Homosexuelle, indem beispielweise die Strafgesetze einiger US amerikanischer Bundestaaten noch bis vor Kurzem sexuelle Handlungen mit Menschen desselben Geschlechts oder mit Tieren gleichermaßen als „Sodomie“ in ein und derselben Strafvorschrift verboten, als „Verbrechen gegen die Natur“ oder „unnatürlichen Verkehr“. Mit diesen und ähnlichen Injurien wird ein Graben aufgerissen zwischen einer überlegenen Menschengruppen und der tierartigen anderen Gruppe, was im Extremfall die physische Vernichtung der Tierartigen vorbereitet.

 

Befreiung von Tieren durch das Recht


Das Recht hat – umgekehrt – auch das Potenzial, zur Bekämpfung und Beendigung der Ausbeutung, Diskriminierung und Auslöschung von Tieren beizutragen. Das Wohlergehen von Tieren, ihre Bedürfnisse und eventuell Rechte sind nicht nur eine Frage sozialer Gerechtigkeit, sondern auch von globaler Gerechtigkeit. Die zentralen Herausforderungen, denen wir uns in unserem Umgang mit Tieren stellen müssen, sind sämtlich globaler Natur: Es geht um Nachhaltigkeit, Klima, Artensterben, Armut und Mangelernährung – sämtlich globale Probleme. Die tierverarbeitende Industrie (Nahrung und Pharma) ist eine globale Industrie. Der Handel mit Tieren und Tierprodukten ist global. Ein einzelner Staat kann beispielsweise Standards für Käfighaltung oder für Tierversuche gar nicht im Alleingang verbessern, weil sich die betroffenen Industriezweige durch Standortverlagerung strenger Regulierung entziehen können. Wenn einzelne Staaten versuchen, diese volkswirtschaftlich relevanten Branchen durch ein attraktives Rechtsumfeld im Land zu halten, besteht die Gefahr einer Abwärtsspirale der Standards, zulasten des Tierwohls. Schließlich beeinflusst internationales Recht die einzelstaatlichen Optionen tierbezogener Maßnahmen. So schränken die Freihandelsabkommen der Welthandelsorganisation (WTO) die Möglichkeit von Importverboten für Waren, die auf tierquälerische Weise hergestellt wurden, ein. Beispielsweise hat das WTO-Schiedsgremium einzelne Aspekte des EU-Importverbots für Robbenfellerzeugnisse kürzlich für rechtswidrig erklärt, so dass die EU dieses Reglement anpassen muss. Aus alldem folgt, dass Rechtsregeln zur Verbesserung des Tierwohls nur dann wirksam sein werden, wenn sie globale Geltung haben.

 

Vom Menschen-Recht zum Tier-Recht


Es ist eine empirische Frage, ob die eingangs genannten angeblichen Alleinstellungsmerkmale des Menschen der Überprüfung durch biologische Forschung standhalten, aber eine ethische und juristische Frage, ob die ventilierten Unterscheidungskriterien moralisch und juristisch relevant sein sollen. Jeremy Bentham hatte argumentiert, dass die Schmerzempfindlichkeit der Tiere (moderner gesprochen, ihre Empfindungs- und Erlebensfähigkeit) entscheidend für die Ethik ihrer Behandlung sei. Die berühmte Fußnote 1 zur „Introduction to the Principle of Morals and Legislation“ von 1781 endet mit dem Ausruf: „The question is not, Can they reason? nor, can they talk? but, Can they suffer?” Weniger bekannt ist, dass diese Fußnote explizit den Vergleich zu Sklaven zieht: „Slaves (…) have been treated by the law upon the same footing as in England, for example, the (… ) animals are still.” Benthams Argument, welches das noch heute gültige, von Peter Singer in Animal Liberation (1975) weiterentwickelte Fundament einer utilitaristischen Tierethik bildet, beruhte also auf der Parallele zwischen Sklaven und Tieren.

Auch im geltenden tierschützenden Recht treffen wir vielfach auf Analogien zu bewährten Rechtsinstituten zugunsten von Menschen. Ein Beispiel sind die sogenannten „fünf Freiheiten“ zur Haltung von Nutztieren, die auf einen englischen Sachverständigen-Bericht unter dem Vorsitz von Roger Brambell aus den 1960er Jahren zurückgehen und mittlerweile einen weltweiten Standard bilden: Die fünf Freiheiten sind Freiheit von Hunger und Durst, von Unwohlsein, von Verletzungen, Schmerz und Krankheit, die Freiheit zur Ausübung normaler Verhaltensweisen, und die Freiheit von Furcht und Notlagen. Ihre Struktur und die Terminologie lehnt sich ziemlich eindeutig an die – menschenbezogenen – „vier Freiheiten“ an, die der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt schon 1941, vor dem Kriegseintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, formuliert hatte (Freiheit der Rede, Freiheit des Kultus, Freiheit von materieller Not und von Furcht).

Eine Reihe weiterer Rechtskonzepte, die bisher allein auf Menschen angewendet werden, könnten auch zugunsten von Tieren eingesetzt werden. Dies reicht vom Institut der Treuhänderschaft (stewardship) über die Dekolonisierung (Entlassung in die Unabhängigkeit) zur Schutzverantwortung (responsibility to protect). Ein aktuelles Beispiel ist der angelsächsische Klagegrund (writ) des Habeas Corpus. Dieser bietet Schutz vor willkürlicher Inhaftierung und Gefangenschaft und wurde in den USA als juristische Waffe zur Sklavenbefreiung eingesetzt. Amerikanische Tierrechtler stützen sich auf diesen writ, um Schimpansen aus Gehegen zu befreien, indem sie vor Gerichten des Staates New York klagen.

Am umstrittensten, aber potenziell am wirkmächtigsten ist das Institut der Rechte. Schon lange meinen Tierethiker, wie beispielsweise Paola Cavalieri: „Es ist an der Zeit, das ‚menschliche‘ aus den Menschenrechten herauszunehmen.“ Die Frage, ob Tiere Rechte haben können und sollen, ist unter anderem deshalb so zentral, weil ihre Bejahung die bisher im Vordergrund stehende anthropozentrische Begründung des Tierschutzes aushebeln würde. Rechtsvorschriften, welche die Misshandlung von Tieren verbieten (beginnend mit englischen Gesetzen im 18. Jahrhundert), dienten in erster Linie dem Schutz der öffentlichen Moral, sollten die Verrohung von Menschen verhindern und dadurch Gewalt gegen Menschen vorbeugen. Die klassische Formulierung hierzu stammt aus Kants Metaphysik der Sitten. Die „Abstumpfung des Mitgefühls“, die Kant dort nennt, wird tatsächlich durch neuere kriminologische Forschung bestätigt: Selbstberichte von Jugendlichen zeigen, dass Grausamkeit an Tieren mit einem höheren Risiko der Begehung von Straftaten einhergeht, so eine schweizerische Studie aus dem Jahr 2011 (wobei dies keinen Kausalzusammenhang beweist).

Eine Übersicht über die existierende Tierschutzgesetzgebung seit den 1860er Jahren zeigt, dass die Gesetzgeber von der anthropozentrischen Begründung bisher kaum abgewichen sind. Dies ist ein wichtiger Unterschied zur Entwicklung der Rechtsvorschriften zum Schutz von Frauen und Kindern. Ursprünglich, das heißt bis zu Anfang des 20. Jahrhunderts, dienten alle Gruppen von Normen dem Schutz der öffentlichen Moral. Dementsprechend war Tierquälerei nur verboten, wenn sie in der Öffentlichkeit stattfand. Auch die frühen zwischenstaatlichen Verträge zur Unterbindung des Frauen- und Mädchenhandels (Handel mit „Weißen“) sollten die Sittlichkeit wahren, Frauen- und Kinderrechte waren unbekannt. In letzterem Bereich hat mittlerweile ein Paradigmenwechsel stattgefunden weg vom Schutz der öffentlichen Moral hin zum Schutz der Opfer um ihrer selbst willen.

 

Treiber der Rechtsentwicklung


Ein historisches Beispiel der Verquickung der Diskurse zu Menschenrechten und Tierwohlfahrt und die Rolle der Öffentlichkeit und des Wirtschaftssektors hierin bieten die Schlachthöfe von Chicago. Deren im 19. Jahrhundert neuartige Fließbandtechnik für die Schlachtung hat Henry Ford für seine Autofabriken übernommen, und die Nazis haben aus beidem die Inspiration für den industrialisierten Massenmord gezogen. Im Jahr 1905 veröffentlichte der Romanschriftsteller Upton Sinclair das Buch „Dschungel“, welches − belletristisch verpackt − die für Tiere grausamen und für die Arbeiter gefährlichen und ausbeuterischen Zustände und Abläufe in den Schlachtfabriken anprangerte. Das kranke und verrottete Fleisch stand als Metapher für den Kapitalismus. Der öffentliche Aufschrei war so groß, dass innerhalb von sechs Monaten nach der Publikation des Romans der US-amerikanische Kongress zwei Hygienegesetze verabschiedete. Dieser Vorgang illustriert, wie Rechtsfortschritte in einem demokratischen System erzielt werden können: Mit Mitteln der Kunst wurden potenzielle Wähler aufgerüttelt, und die Schlachthauslobby selbst forderte die strengere Regulierung, um ihr Image zu retten und das Geschäft zu verbessern. Aber zur Enttäuschung des Autors empörte sich das Publikum zwar über die Gesundheitsgefahren des Gammelfleisches, hörte aber nicht Sinclairs sozialistische Botschaft. Sowohl Arbeiterrechte als auch das Tierwohl blieben bei diesem Rechtsentwicklungsprozess weitgehend auf der Strecke.

Rechtssoziologisch ist bemerkenswert, dass der Tierschutz feminisiert ist: Sowohl Aktivistinnen als auch Wissenschaftlerinnen sind überwiegend Frauen. Dies schwächt im gegenwärtigen Umfeld das Anliegen des Tierschutzes, genauso wie feminisierte Berufe (Kindergärtnerin, Krankenschwester etc.) ein geringeres Sozialprestige genießen als männliche. Schon in den Anfängen im 19. Jahrhundert verliefen Kämpfe um Frauenrechte und um Tierschutz parallel. Sie zielten auf die Praxis der Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen wie auch von Tieren. Rechtsregeln, die heute längst als frauendiskriminierend aufgehoben sind, wurden früher nicht selten mit der angeblich „tierhaften“ Natur der Frauen (sie seien den Beschwerden des Zyklus und der Schwangerschaft ausgeliefert, deshalb launisch, instinkthaft, sexuell aufreizend, wenig rational usw.) gerechtfertigt.

Berüchtigt ist eine satirische Reaktion auf ein Manifest der frühen Feministin Mary Wollstonecraft, „Forderung nach Rechten von Frauen“, von 1792. Ein englischer Autor verfasste daraufhin ein Pamphlet mit der „Forderung nach Rechten der Tiere“, um zu demonstrieren, wie abwegig die Forderung nach Frauenrechten sei: Wenn man einmal damit begänne, könne man gleich auch Tieren Rechte einräumen. Ist dieses Argument heute umkehrbar?

Eine andere Parallele zwischen dem Unrecht an Tieren und an Menschen haben einige Überlebende des Holocaust gezogen. Der jüdische Nobelpreisträger Isaac Bashevi Singer lässt in einem Roman den Hauptdarsteller sagen: „In Bezug auf sie [die Tiere] sind alle Menschen Nazis, für die Tiere herrscht ein ewiges Treblinka.“ Solche Vergleiche sind in Deutschland verpönt. Ein Tierschutzplakat der NGO „People for the Ethical Treatment of Animals“ (PETA) mit dem Titel „Der Holocaust auf Ihrem Teller“ wurde hierzulande gerichtlich verboten.

 

Kulturimperialismus?


Im März 2013 ist in der EU das Totalverbot von Tierversuchen für Kosmetika in Kraft getreten. Der EU-Kommissar für Gesundheit und Verbraucherpolitik äußerte sich in der Presseerklärung „über den Wert, den Europa der Tierwohlfahrt zuschreibt. Die Kommission (…) wird Drittstaaten auffordern, unserem europäischen Ansatz zu folgen. Dies ist eine großartige Gelegenheit für Europa, ein Beispiel zu geben für verantwortungsvolle Innovation bei Kosmetika, ohne Kompromisse bei der Verbrauchersicherheit einzugehen.“ Hier schwingt ein wenig die mission civilisatrice mit: „Wir“ Europäer zeigen dem Rest der Welt, was es heißt, zivilisiert zu sein.

Gegen solche Maßnahmen wird der Vorwurf des Kulturimperialismus erhoben: Die Tierschutz und -rechtsbewegung sei, wie schon die Menschenrechtsbewegung, ein neuerlicher Kreuzzug des Westens gegen fremde Praktiken, dessen Protagonisten einen Universalitätsanspruch erhöben, um anderen Kulturen ihre eigenen, rein lokalen Präferenzen aufzudrücken und dadurch die kulturelle und politische Vorherrschaft über die nicht-westliche Welt, insbesondere den globalen Süden, zu verfestigen. Dieser Vorwurf ist nicht völlig abwegig oder trivial. In Bezug auf die Menschenrechte ist noch keine Antwort formuliert worden, die ihn endgültig entkräftet und alle Kritiker dauerhaft zufriedenstellt, nicht zuletzt, weil immer wieder neue Situationen auftreten, die als Manifestation von Hegemonialstreben interpretiert werden können.

Ein Beispiel aus dem Tierschutz bietet das Verbot des Verkaufs von Hunden als Delikatesse und deren Schlachtung auf offener Straße in den 1990 Jahren auf dem Markt der Chinatown von San Francisco. Ist dies nicht heuchlerisch angesichts der Tatsache, dass währenddessen Milliarden von Schweinen, die mindestens ebenso empfindungs- und erlebensfähig sind wie Hunde, für den Verzehr der Westler geschlachtet werden, mit dem einzigen Unterschied, dass dies vor den Augen der Öffentlichkeit sorgsam verborgen wird? Und was wird ein gläubiger Hindu empfinden, wenn er Einblick in unsere Rinderschlachtfabriken nimmt?

Kultur-Sensitivität muss also sowohl bei der Weiterentwicklung universeller Menschenrechte als auch im Tierschutz Rechnung getragen werden. Auf dieser Linie ist für die EU mit dem Lissabon-Vertrag im Jahr 2009 eine Tierwohl-Mainstreaming-Klausel in Kraft gesetzt worden, aber unter dem Vorbehalt der „religiösen Riten, kulturellen Traditionen und des regionalen Erbes“. Es verwundert nicht, dass dieser Vorbehalt von spanischen Diplomaten in den Vertragstext eingebracht wurde, und dass neuerdings ein spanisches Gesetz den Stierkampf als „kulturelles Erbe“ Spaniens legal definiert.

Ein derartiger Hinweis auf kulturelle Traditionen kann, in Bezug auf Tierrechte wie bezüglich der Menschenrechte, als massive Fortschritts-Bremse wirken. Die Grenze zwischen legitimen Anliegen kultureller Diversität und missbräuchlicher Anrufung von „Kultur“ durch diejenigen, die damit ihre illegitimen Privilegien sichern wollen, ist nicht immer einfach zu ziehen. In diesem Spannungsfeld müssen wir uns bewusst machen, dass sich Kulturen nicht wie nach einem genetisch festgelegten Muster unabänderlich entfalten. Vielmehr werden Sitten, Gebräuche und Rechtsvorschriften von lernfähigen Menschen gemacht und praktiziert bzw. angewendet.

 

Freiheit wird nicht geschenkt


„Liberté, egalité, fraternité“ sind weder vom Himmel gefallen, noch wurden die Rechte den Unterprivilegierten von der Elite freiwillig geschenkt. Die Beachtung dieser Prinzipien wurde vielmehr von den Entrechteten und Geknechteten selbst – aufbauend auf der gedanklichen Vorarbeit von Philosophen, Staatstheoretikern und Juristen – gegen das Establishment und gegen die herrschende Kultur erkämpft. (Hier liegt natürlich ein Unterschied zu den Tierrechten, die von den Betroffenen niemals selbst mit juristischen Argumenten eingefordert werden können – aber dies geht Kindern und den meisten unterdrückten Menschengruppen nicht anders, sie sind in aller Regel auf professionellen Beistand angewiesen.)

Um das Rad nicht neu zu erfinden, sollten in der Tierrechtsdiskussion die in Bezug auf Menschenrechte bereits formulierten Argumente aufgegriffen und nötigenfalls angepasst werden. Es sollten aber auch die soziologischen und ökonomischen Randbedingungen, die Erfolgsfaktoren und Entwicklungshemmer der Menschenrechtsdiskurse und der Menschenrechtspraxis in den Blick genommen werden. Die Risiken, aber auch die Chancen der Tierwohl- und Tierrechtsbewegung können dadurch genauer ausgelotet werden.

„Die Zookritik tritt in ein neues Stadium“, schreibt Christian Geyer in der FAZ vom 25. Juni 2014. Es ist zu hoffen, dass sie die Käfighaltung von Säugetieren, wie damals diejenige der „aussterbenden Lippennegerinnen“ in Basel, bald als „Kulturschande Zoo“ hinweggefegt haben wird.

Anne Peters

Jg. 1964, ist Direktorin am Heidelberger Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. 2012/13 war sie Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist das neue Rechtsgebiet Global Animal Law.

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