Der praktische Sündenbock

Ein Essay von Marcia Pally

Früher übertrug der Hohepriester mit Handauflegen die Sünden seiner Gläubigen auf einen bedauernswerten Ziegenbock, der daraufhin beladen mit allem Schlechten in die Wüste vertrieben wurde. Heute schieben wir die Schuld für gesellschaftliche Kalamitäten auf die irrationalen Einflüsse der Religionen als ein verheerendes Erbe. Eine so erfolgreiche wie verlogene Strategie, findet Marcia Pally in ihrem Essay.

Betrachtet man die europäischen Debatten über Religion, müsste man zu dem Schluss kommen, dass diese ungeheure Macht besitzt. Was uns auch an Schlimmem zustößt – die Religion ist schuld. Sie hat die Übel der Modernität in Gang gesetzt, insbesondere den extrem rationalen Kapitalismus, und gleichzeitig lässt sie die Furien der vormodernen Irrationalität los. Sie macht die Menschen zu herzlosen Profiteuren und gleichzeitig zu leidenschaftlich unvernünftigen Vorkämpfern eines vormodernen Glaubens – von solcher Leidenschaft erfüllt, dass sie sich mehr um „Werte“ sorgen als um Profite. Wie unvernünftig!

Die Kritiker des Kapitalismus möchten, dass man sich um andere Werte bekümmert als um den Profit, aber wenn die anderen Werte religiös sind, dann mögen sie das nicht – obwohl unter den Schlüsselgeboten der abrahamitischen Religionen neben der Hilfe für die Armen der Friede ist (5. Mose 15, 7-10 und etwa zweitausend andere Vorschriften), die Großzügigkeit den Fremdlingen gegenüber (2. Mose 22, 21; 3. Mose 19, 34; 3. Mose 23, 35-39; 5. Mose 27, 19; 10, 18; 24, 17; 16, 11; Lukas 10, 27-35 usw.) und gegenüber dem Feind (unter anderen Stellen 5. Mose 23, 7-8).

Aber das zählt nicht. Die Religion ist das Opfer einer tautologischen Sündenbock-Strategie geworden: Man nenne das, was im Argen liegt, Religion, und dann mache man die Religion verantwortlich, wenn etwas im Argen liegt. Dies verdeckt den Umstand, dass die Religionen menschliche Institutionen sind, fähig zum Guten und Bösen wie andere Institutionen auch, und deshalb betrachtet werden müssen wie andere menschliche Anstrengungen. Wenn die Menschen von politischen Systemen brutal misshandelt werden – vom Nationalsozialismus, vom Stalinismus, der Apartheid, dem Maoismus usw. –, dann ziehen wir nicht den Schluss, dass die Politik gänzlich abgeschafft gehört. Wenn wirtschaftliche Systeme entsetzliche Gier und Ausbeutung produzieren, überlegen wir uns nicht, wie wir die Ökonomie ein für alle Mal loswerden könnten. Ebenso sinnlos ist es, davon zu reden, wir müssten uns von der Religion befreien, wenn sich diese mit politischen Maßnahmen gemein macht, welche eine Last für die Menschen sind. Und kurzerhand den Nationalsozialismus, Stalinismus usw. als „Religionen“ zu bezeichnen – das ist eben jene tautologische Denunziation. Man bezeichnet eine Ideologie als Religion und macht dann die Religionen (Christentum, Judentum, Islam, Hinduismus, Baha’i) für die Missstände der Welt verantwortlich.

Drei der häufigsten Klagen, welche man gegen die Religion erhebt, lauten: Sie führt in stärkerem Maße als andere Institutionen zur Gewalt, sie ist widervernünftig und insofern per se schlecht, und sie stützt die schlimmsten Züge des Kapitalismus. Ich werde diese drei Punkte der Reihe nach durchgehen und dann auf religiöse Grundsätze zu sprechen kommen, die – ganz anders, als die tautologischen Vorwürfe es wollen – direkt die egoistischen, gewaltsamen Untaten kritisieren, zu welchen die Menschheit imstande ist.

Der Vorwurf außergewöhnlicher Gewaltsamkeit des Religiösen hätte eigentlich bereits durch die säkularen Gräuel des zwanzigsten Jahrhunderts widerlegt sein sollen, doch auch die des neunzehnten oder achtzehnten hätten ausgereicht (Kolonialismus, Sklaverei, politische Unterdrückung, Folter) wie auch die des neunten und achten (und weiter zurück bis in die Antike). Die Kreuzigung war schließlich ein Instrument der römischen Politik, nicht der Religion. Schon ein kurzer Blick auf die Kriege, Unterwerfungsfeldzüge, die Verfolgungen von Stämmen und Ethnien und die Methoden der Folter, die zum politischen und ökonomischen Nutzen polytheistischer Gesellschaften ins Werk gesetzt wurden, ohne dass dabei die abrahamitischen Religionen irgendeine Rolle gespielt hätten (etwa in Ostasien, Afrika, im präkolumbianischen Amerika), sollte die Fabel von einer speziellen religiösen Neigung zur Gewalt der Absurdität überführen. Frieden ist ein wichtiger Zentralbegriff der Bibel: 5. Mose 20, 10 schreibt vor, Friedensverhandlungen zu führen, ehe man Krieg beginnt; bei der Kodifizierung des Gesetzes durch die rabbinischen Kommentatoren und Maimonides wurden solche Friedensanstrengungen als bindend vorgeschrieben. Man könnte bescheiden sagen, dass Jesus, der Friedensfürst, der die andere Wange hinhielt, diese Tradition fortsetzte (für eine detailliertere Diskussion von Gewalt in der Bibel vgl. Pally, The Hebrew Bible is a problem set, in: Schieder, Die Gewalt des einen Gottes, Berlin 2104).

In der Neuzeit stammten die Argumente gegen kirchliche Verfolgung nicht erst von den Wortführern der Aufklärung, sondern – zwei Jahrhunderte zuvor – von religiösen Denkern wie dem Reformierten Sebastian Castellio, dem Juden Baruch Spinoza und dem Puritaner, Sozinianer (und möglicherweise Arianer) John Locke, die alle durchdrungen waren von judäochristlichen Lehren. Der kategorische Imperativ Kants nimmt die biblische Goldene Regel wieder auf. Es ist eine Banalität, die für Frieden und Gerechtigkeit eintretenden Bewegungen herzuzählen, die von religiösen Persönlichkeiten angeführt wurden: Dorothy Day und die lateinamerikanischen Befreiungstheologen (Katholiken), Martin Luther King Jr. und andere in der Bürgerrechtsbewegung (Protestanten), Desmond Tutu (ein Anglikaner) oder Emmanuel Levinas, Martin Buber und Abraham Joshua Heschel (Juden). Man könnte auch die Krankenhäuser, Schulen, die Programme zur Hilfe für Gefangene usw. auflisten, die von Gläubigen betrieben werden.

Den Vorwurf, die Religionen seien irrational und insofern schlecht, finde ich doppelt merkwürdig: Irrationalität ist nicht als solche schlecht, und religiöse Grundannahmen sind nicht irrational. Man nennt sie so, weil man sie ohne das notwendige exegetische Instrumentarium falsch entziffert. Ich will nicht mäkeln, aber wir im Westen bilden uns politisch und ökonomisch, um die entsprechenden Texte mit Verstand lesen zu können, der Theologie aber nähern wir uns mit einer kindischen Hermeneutik, um dann zu erstaunen, dass nur Kindergeschichten dabei herauskommen.

Bei theologischen Präzepten, die auf biblischer Erzählung und biblischer Bildlichkeit beruhen, geht es weder um historische Tatsachen noch um Wissenschaft. A. N. Whitehead nannte eine solche Annahme „den Trugschluss des falsch Konkreten“ (Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt). Rowan Williams, der ehemalige Erzbischof von Canterbury, schreibt, dass die Versuche, die Bibel mit irgendeiner Faktizität in Einklang zu bringen, wohl „am falschen Ende“ ansetzen, da der Zweck des Textes nicht historische Genauigkeit ist, sondern die Erforschung der menschlichen Existenz – der Art und Weise, wie wir Gut und Böse hervorbringen und darauf reagieren (vgl. Williams, Being Christian). Die Bibel ist ein Apparat von Problemen, mit dem es eine Ethik zu entwickeln gilt, nicht eine Reihe von Ikea-Instruktionen, die man genau nachahmen muss. Das ist keine moderne Idee: Der Talmud verbietet es, die Bibel als Wissenschaft zu lesen; Averroes lehrte im zwölften Jahrhundert die kritische Interpretation religiöser Texte. Die Noah-Geschichte beispielsweise soll uns nicht über eine große Flut in alter Zeit informieren, sondern über die Folgen, welche menschliche Exzesse (Sünden), die der Natur Gewalt antun, auf diese Natur haben. Während manche eine buchstäbliche Auffassung der Bibel lehren, tun die meisten dies durchaus nicht, und die Behauptung, eine solche eingeschränkte Interpretation sei mit der Religion schlechthin gleichzusetzen, lässt sich nicht aufrechterhalten – falls man nicht tautologisch argumentiert und nur die Vertreter der Buchstäblichkeit religiös nennt (was den Erzbischof von Canterbury aus der Kirche vertriebe), um dann der Religion Buchstäblichkeit vorzuwerfen.

Die Vorstellung, Irrationalität sei von Übel, ist nicht nur merkwürdig, sondern geradezu erschreckend, da die Liebe, die Kunst und jene Generosität, die wenig zurückbekommt, allesamt „irrational“ sind, aber von hohem Wert. Hier könnte die Kapitalismuskritik überhaupt ihr Ziel verfehlen: Es könnte sein, dass nicht der Einfluss irrationaler religiöser Werte, sondern deren Fehlen die fatalen Exzesse des Kapitalismus möglich macht. Der Ökonom Antonio Genovesi bemerkte im 18. Jahrhundert, dass die kapitalistischen Märkte selbst keine negativen Folgen haben, sondern einfachen Leuten die Möglichkeit geben, aus überkommener, ansonsten nicht abzuschaffender Armut herauszukommen. Doch, so meinte er in den „Lezioni di commercio“, blühen die Märkte nur bei Vorhandensein der „irrationalen“ Werte des Vertrauens und der gegenseitigen Fürsorge – irrational, weil man diesen Werten auch dann folgen soll, wenn man ohne sie rascher vorwärts kommen und mehr Profite erzielen könnte. Adam Smith, der angebliche Guru der Gier, war derselben Ansicht und lehrte, dass der Kapitalismus nur dort funktioniert, wo die Beteiligten die Tugenden der Verantwortung für das Allgemeinwohl besitzen, darunter Ehrlichkeit, das Einhalten von Versprechen und Zusammenarbeit. Jedermann sollte, so schrieb Smith in seiner „Theorie der ethischen Gefühle“, „versuchen, so gut er nur kann, sich in die Lage des Anderen zu versetzen, und sich selbst jeden geringen Umstand des Unglücks vor Augen halten, der dem Leidenden erdenklicherweise zustoßen kann“.

Hier haben wir wieder die Goldene Regel, die auf der „irrationalen“ Idee beruht, dass alle Menschen nach Gottes Bild geschaffen worden sind und infolgedessen so behandelt werden müssen, wie wir selbst behandelt werden möchten. Vielleicht sollten wir diese Position des Gurus der Gier ernst nehmen.

Das Argument, dass man zu dieser Position auch auf säkularem Wege gelangen könnte (wenn ich ehrlich mit dir umgehe, wirst du mit mir ehrlich umgehen), ist lediglich strategisch. Die Menschen werden sich nur so lange anständig verhalten, bis sie es sich leisten können, eigennützig zu agieren – nur bis zu dem Punkt, da die Vorteile, die der Missbrauch anderer mit sich bringt, größer werden als die Nachteile. Genau dies ist die „rationale“ Kalkül, das die Ausbeutung und die Finanzkrisen von 2008 (1929, 1893, 1878 … 1673, 1619) mit sich bringt. Wer erklärt, die Sorge um Andere sei nicht bloß eine Strategie, sondern ein säkulares humanistisches Prinzip, der muss seine Prinzipien klar darlegen. Es mag dies seine Position sein, aber wie kam diese Position zustande? Der Humanismus hat sich nicht aus sich selbst heraus geboren, sondern ging aus der Ontologie der abrahamitischen Glaubensformen hervor, und selbst wenn heute ein säkularer Menschenrechtsdiskurs existiert, so sind die Prinzipien, die ihm zugrundliegen, nicht säkular.

Gewiss, manche Züge des Protestantismus haben den Kapitalismus begünstigt. Max Weber hat die Rationalisierung des Lebens betont, aber entscheidend ist auch die Vorstellung von individueller Anstrengung: In dem Maße, in dem jeder Mensch sich anstrengt, zu Gott zu gelangen und sich moralisch zu verhalten, wird die Anstrengung als solche zu einer gut trainierten Muskulatur, die sich bald auf vielen Gebieten einsetzen lässt, darunter die Wirtschaft. Ist man einmal geübt im Sich-Anstrengen, bemüht man sich um mehr von allem (Besitz, Marktanteil), ohne groß zu fragen, wozu der Zuwachs dient oder wie man ihn auf gesellschaftlich verträgliche Weise erzielen könnte.

Doch wurde der Protestantismus ebenso stark von der Wirtschaft beeinflusst, wie er diese wiederum prägte. Mit der wissenschaftlichen Revolution wuchs die Kontrolle über die Natur beträchtlich, was die beabsichtigten Folgen größerer Gesundheit und größeren Wohlstandes hatte. Zu den unbeabsichtigten Folgen gehörte eine Verschiebung des Menschheitsstandpunkts von einem Ort in der Natur zu einer Haltung der Kontrolle über die Natur und das Bestreben, immer mehr aus ihr herauszuholen. Das ging einher mit dem Nominalismus, einer Philosophie, die fasziniert war vom Verstand und dessen Fähigkeit, festzulegen, was etwas bedeutet – die unberechenbare Natur in ein kontrollierbares Werkzeug zu verwandeln. In dem Maße, in dem die Bedeutungen vom Verstand festgelegt wurden und in dem die Vorteile wuchsen, welche die Kontrolle über die Natur mit sich brachte, wuchs auch die Wichtigkeit der persönlichen (rationalen, wissenschaftlichen) Kalkulationen jedes Menschen, stets mehr aus der Welt herauszuholen, durch Bergbau, Erfindung und Fabrikproduktion. Kurz, die Freude daran, nicht mehr so früh sterben zu müssen und über schönes Weißzeug und Teetassen zu verfügen, wich der Lust an unbegrenzter Verbesserung – „Mehr“ als ein ethisches Prinzip, synergetisch von der Wissenschaft, der Ökonomie und dem protestantischen Anstrengungsethos vorangetrieben.

Es ist wichtig, festzuhalten, dass die Anstrengung und der Wunsch, sich zu verbessern, in sich nichts Böses sind. Das Missbräuchliche an ihnen tritt erst dann hervor, wenn sie nicht länger mit einer Ontologie dessen verbunden sind, wozu die Anstrengung eigentlich dient, und mit einer Ethik, die überlegt, auf welche Weise man das Bessere erzielen soll – wie Genovesi und Smith bemerkten. Und wie es die abrahamitischen Religionen statuieren: Ihnen zufolge soll das Individuum nicht aus Eigenem nach Kontrolle und Gewinn streben; es gehört zu einem System, dessen Grundlagen nur funktionieren, wenn wir füreinander und für die natürliche Infrastruktur Sorge tragen.

Da die Religion jeglichem Ehrgeiz solche Kautelen vorschreibt, ist es ebenso töricht, sie für deren Verletzung verantwortlich zu machen, wie das Heiratsgelübde als Ursache des Ehebruchs zu sehen. Wir mögen unsere religiösen Prinzipien verraten, wie wir unsere politischen Prinzipien oder unsere guten Vorsätze zum neuen Jahr verraten, aber das ist keine Eigenheit des Glaubens.

Nun möchte ich kurz skizzieren, wie man in wirtschaftlicher Hinsicht von der Theologie zur Ethik gelangt. Die Theologie beginnt mit der Idee eines Seins, einer Wesenheit, welche die Ursache dafür ist, dass etwas ist und nicht nichts, wie sie auch die Ursache der besonderen Prinzipien ist, welche die Dinge bewegen – einer Ursache aller Ursachen. Individuelle Wesen gehen aus dem Seienden (wie Heidegger sagen würde) nicht als identische Abbilder oder mit vergleichbaren Einzelheiten ihrer Erscheinung hervor, sondern auf analoge Weise – sie teilen mit dem Schöpferprinzip etwas von dessen Grundstruktur. Thomas von Aquin bezeichnet dies als analogia entis (Analogie des Seins): Ursachen führen zu Ergebnissen, die ihnen ähneln, und so besitzt die Menschheit, verursacht von dem Grundprinzip Gott, eine gewisse tiefsitzende Ähnlichkeit mit diesem. Poetischer ausgedrückt: Wir sind erschaffen nach seinem Bilde. „In allen Dingen“, schrieb Thomas von Aquin, „ist Gott wesentlich die Ursache des universellen Seins, das im Innersten aller Dinge ist … In allen Dingen arbeitet Gott zuinnerst.“ (Summa Theologica, I a, q. 105, art. 5)

Da das Schöpferwesen von den Einzelwesen unterschieden ist, aber gleichzeitig „zuinnerst“ in uns, ist das, was ich „bezügliche Unterschiedenheit“ nennen möchte, schlechthin ein Teil dessen, was es bedeutet, überhaupt zu „sein“. Jeder Mensch ist unterschiedlich, aber wir sind durch Beziehungen und für sie bestimmt. Selbst eineiige Zwillinge sind in ihren Zielen und Charakteren unterschiedlich – was Alain Badiou als „universelle Singularität“ bezeichnet (vgl. Badiou / Žižek, Philosophie und Aktualität) –, und doch entwickeln sich alle Personen zu einzigartigen Individuen nur durch Beziehungen, beginnend mit denen zu unseren frühesten Bezugspersonen. Wir sind Geschöpfe der Beziehung und der gegenseitigen Beeinflussung und müssen uns deshalb auch um unsere Beziehungsnetzwerke kümmern – um die Institutionen von Erziehung, Verwaltung, Wirtschaft und Politik, welche es den Menschen erlauben, zu jenen Personen zu werden, die sie schließlich sind. Während dies mit ganz nahen anderen Menschen anfangen mag, erstrecken sich angesichts der Mobilität von Menschen, Waren, Viren und Ideen die Zonen gegenseitiger Beeinflussung über den ganzen Erdball.

Politische Strategien, welche diese bezügliche Unterschiedlichkeit berücksichtigen (welche die Probleme nicht gegen den ontologischen Strich bürsten wollen), erzielen bessere Ergebnisse als andere. Eine derartige Politik berücksichtigt die Anliegen der Einzelnen (das Unterschiedliche) und hält diese Anliegen für bedenkenswert. Auf die Anliegen anderer einzugehen – wechselseitige Bedenkenswertigkeit – bedeutet nicht, dass man die eigenen Ansichten aufgibt oder dass alles, was jemand verlangt, ihm auch zugestanden wird. Es bedeutet, dass man wechselseitig die verborgenen Bedürfnisse, Ängste und Pläne des anderen erkennt, damit man sich mit alledem so beschäftigen kann, dass alle Beteiligten ihren Beitrag leisten. Kurz, die Theologie vom Wesen der Dinge ergibt eine Ethik, die lehrt, wie man es vermeidet, die Dinge in den Sand zu setzen.

Ein praktisches Beispiel: Die Frage ist nicht, ob eine Holzfirma und deren Angestellte (die ihre Arbeit behalten möchten) weiterhin legal Bäume abholzen dürfen, obwohl die in der Gegend Wohnenden und diverse Umweltschutzgruppen dagegen protestieren. Die Frage ist, wie die Verhandlungen aussähen, wenn alle Beteiligten (Besitzer, Aktionäre, Angestellte, Anwohner, Umweltschützer) des Glaubens wären – und zwar auf so selbstverständliche Weise, wie wir glauben, dass wir atmen –, dass eine Diskussion (mit Joel Hunters Formulierung) damit beginnt, herauszufinden, „weshalb die andere Seite für die andere Seite ist“, und sich damit fortsetzt, dass wir das als bedenkenswert betrachten (Hunter ist Pfarrer und war von 2009 bis 2010 Mitglied des „President’s Advisory Council on Faith-Based and Neighborhood Partnerships“ von Präsident Barack Obama; vgl. Hunter, A New Kind of Conservative). Niemand verlässt die Diskussion, ehe er nicht substanziell zur Lösung beigetragen hat und ehe nicht ein Konzept entwickelt worden ist, bei dem niemandes Anliegen ignoriert werden.

Kurz: Wie sähe die Ökonomie aus, wenn wir die Konsequenzen einer derartigen Theologie zögen, die in den abrahamitischen Glaubensformen recht verbreitet ist?

Ich glaube, die reflexhafte Verurteilung der Religion funktioniert wie jeder andere Sündenbockmechanismus. Sie schiebt die Schuld für die Übel des Lebens beruhigenderweise weg von uns selbst. Wir sind nicht die Ursache unserer Gier und Aggressivität – die Religion ist‘s. Wäre dieser Eindringling nicht mehr da, dann wären wir alle freundlich und unschuldig. Wir machen die Religion zum Teufel und ziehen uns zurück auf den bekannten Satz „Dazu hat mich der Teufel verleitet!“.

Die Religion, die seit Jahrtausenden über die Schwächen der Menschheit meditiert, gibt auch einige Hinweise zur Mechanik des Sündenbockes. Das Judentum verbietet es, jemanden zum Sündenbock zu machen; will man unbedingt Aggressionen ausagieren, bediene man sich eines Ziegenbockes. Das Christentum ist vertraut mit dem Vorgang, dass man von eben den Menschen gekreuzigt wird, denen man helfen möchte. Tatsächlich – um zu unserer Diskussion, wie man die Bibel lesen soll, zurückzukehren – ist die Erforschung dieser menschlichen Angewohnheit ein Hauptzweck der Lektüre.

Aus dem Amerikanischen von Jo Kalka

Marcia Pally

forscht als Kultur- und Sprachwissenschaftlerin zum Verhältnis von Kultur, Religion und Politik sowie zum Einfluss von Kultur auf Sprachgebrauch und Spracherwerb. Pally lehrt Multilingual Multicultural Studies an der New York University. 2014/15 ist sie DAAD-Gastprofessorin, 2012/13 war sie Mercator-Gastprofessorin an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin sowie 2006/07 und 2009/10 Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg. 

Konferenz "Ihr aber glaubet"

Marcia Pally wird auf der Konferenz „‚Ihr aber glaubet‘ – Über Religion und Wachstumsdenken“ sprechen, die vom 12. bis 14. Juni in Köln stattfindet und von der Kulturstiftung des Bundes veranstaltet wird.

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