Die andere Bibliothek - Brief an eine Altbekannte

Richard David Lankes

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Liebe Bibi,

Du bist nicht die einzige Bibliothekarin, die sich Sorgen um die Zukunft der Bibliotheken macht. Entweder bekommt man gesagt, Büchereien seien altmodisch oder überflüssig geworden, oder man hört, dass Bibliotheken in Zukunft eher als eine Art Stadtteilzentrum fungieren sollen, eher Erlebnisse als Lesefähigkeit und Bildung vermitteln sollten. Du fragst Dich, warum wir eigentlich ein neues Bibliothekswesen benötigen, das die Rolle der Büchereien – und Deine eigene – in einer modernen und diversen urbanen Gesellschaft neu denkt.

Können Bibliotheken nicht einfach stille Lese-Zufluchtsorte sein? Warum kann man sie nicht in Ruhe lassen? Warum will man Dich dazu bringen, Dein angestammtes Umfeld zu verlassen und Dich auf komplexe – und beängstigende – Diskussionen über Integration und Nationalismus und soziale Sicherheitsnetzwerke einzulassen?

Meine Antwort soll Dir Mut machen und Dein Selbstbewusstsein stärken: weil die Gesellschaft uns braucht, weil es nur wenig andere gibt, die ihr auf diese Weise helfen können, und weil das Bibliothekswesen schon seit über viertausend Jahren eine Mission hat. Bibliotheken und die, die sie bauen und betreiben, haben von alters her die Aufgabe, die Gesellschaft klüger zu machen. Im antiken Alexandria war der Leiter der großen Bibliothek gleichzeitig Berater der Könige. Im Mittelalter nährten die Bibliotheken die Seelen und den Verstand der Menschen.

Der Exkurs in die Geschichte ist wichtig, damit klar wird, in welcher großen Tradition wir stehen: Die Renaissance kam einer Wissensexplosion in der Gesellschaft gleich – nicht Bücher oder Schriften, die Werkzeuge des Wissens, sondern Auffassungen über Kunst und das Rechtswesen und die Gesellschaft verbreiteten sich. Die Bibliotheken waren die Forschungslabore der Philosophen. Auch in der Aufklärung, der Reformation oder im Internetzeitalter findet man überall Bibliotheken und Bibliothekare. Und wir brauchen aus demselben Grund eine neue Art des Bibliothekswesens, aus dem wir Geschichte in Jahrtausenden messen: Unsere Gesellschaft verändert sich und steht neuen Chancen und Herausforderungen gegenüber – und ist angewiesen auf Bibliotheken und Bibliothekare, die sich diesen ebenfalls stellen.

Niemand verlangt von Dir, Deine Arbeit und Deine Erfahrung über den Haufen zu werfen und von vorne anzufangen. Man muss beides nur anders und neu einsetzen. Seit mehr als einem Jahrhundert sind Bibliothekare hauptsächlich damit beschäftigt, Material zu sammeln und es öffentlich zugänglich zu machen. Dieses Bibliothekskonzept geht auf Vorstellungen zurück, die in der industriellen Revolution ihren Ursprung hatten. Wir haben uns bemüht, Bibliotheken auf Normen und Effektivität hin auszurichten, damit eine Bücherei in Berlin genauso funktioniert wie eine in Hamburg oder New York oder Kairo. Damit waren wir nicht allein. Auch unsere Schulen und sogar unsere Regierungen folgten dem Konzept des Fließbands. Jetzt ist es an der Zeit, wieder auf das zu bauen, was viel mehr wiegt als Effektivität: Wie Menschen ihren Sinn im Leben finden.

Du, Bibi, musst Dir klar machen, dass das, wofür Bibliotheken stehen, nicht Bücher oder Datenspeicher oder Computer sind, sondern Gesellschaft, Gemeinwesen. Die Bücher und das Gebäude sind gute Werkzeuge, aber sie sind nur Streichhölzer, die den Geist der Gesellschaft entzünden. Unser Ziel sollte nicht sein, alles zu sammeln, was unsere Gesellschaft braucht, sondern eine klügere, bewusstere und offenere Gesellschaft in die Welt zu entsenden. Bibliotheken werden weiterhin Orte kulturellen Erbes sein – einer lebendigen und dynamischen Kultur. Und eines Erbes, das wächst und ständig neu betrachtet wird.

Die Menschen, die in Deine Bibliothek kommen, sind keine Konsumenten, die unterhalten oder informiert werden wollen. Sie wollen, dass ihr Leben eine Bedeutung hat. Sie wollen lernen, teilen und teilhaben, die Ingenieure, Klempner, Musiker, Anwälte und viele andere. Diese Menschen bilden den Bestand einer Bibliothek, und der ist viel großartiger als alles, was in den größten Bibliotheken der Welt angesammelt wurde. Denn sie können etwas, das keine Staatsbibliothek oder die Bücherei des Vatikans kann: neues Wissen schaffen. Und vor allem kann dieser Bestand mehr für sich und seine Nachbarn tun als jeder Text, wie erhaben er auch sein mag: Er kann die Welt zum Besseren verändern. Der eigentliche Bibliotheksbestand, das sind die Bürger von heute und die Führungspersönlichkeiten von morgen.

Stell Dir einfach vor, Deine Bibliothek wäre kein Rückzugsort, sondern ein Motor für Veränderung. Stell Dir vor, man könnte dort den Terror bekämpfen, weil jeder Nachbar den anderen kennt. Stell Dir vor, man könnte die Demokratie schützen, indem man die Wähler dazu befähigt, Propaganda von vertrauenswürdigen Quellen zu unterscheiden. Stell Dir vor, die Dienstleistung von Bibliotheken bestünde darin, durch die Vermittlung von Fähigkeiten und Wissen und die Stärkung des Selbstwertgefühls zur Armutsbekämpfung beizutragen. Egal, wie arm man ist, die Würde des Lernens kann einem niemand nehmen. Des Lernens aus Büchern, von YouTube oder Freunden.

Mir ist klar, dass Du Dir deswegen nicht weniger Sorgen machst. Wahrscheinlich wirst Du bei diesen hochfliegenden Gedanken eher noch nervöser. Doch Du bist nicht allein, sondern schon Teil einer Bewegung. Bibliotheken in den Niederlanden rüsten Busse mit 3D-Druckern, FabLabs und WLAN aus, um mit Studierenden in entlegeneren Gegenden des Landes Kontakt aufzunehmen. In den USA fungieren Bibliothekare als soziales Sicherheitsnetz für obdachlose Familien. In der Schweiz helfen Bibliothekare mit Sprachkursen und Wohnungsvermittlungsangeboten neu angekommenen Immigranten, sich in die Gesellschaft zu integrieren. In Italien nutzen die Städte ihre öffentlichen Bibliotheken zur Erhaltung antiker Schriften und als Lernorte für Universitätsstudenten – so entsteht nebenbei eine neue Piazza. In einer Stadt nach der anderen, einem Land nach dem anderen und einem Kontinent nach dem anderen haben die öffentlichen Büchereien ihre Tore geöffnet und die Menschen hereingebeten, in diesen neuen öffentlichen und gesellschaftlichen Raum, während umgekehrt die Bibliothekare auf die Menschen zugehen.

Und dabei sind diese Bibliothekare gar nichts Besonderes. Sie verfügen über die gleichen Mittel und Fähigkeiten wie Du. Ist das beängstigend? Vielleicht.  Aber es ist nicht umsonst. Wenn sie ihre bereits vorhandenen Fähigkeiten für die Bildung und die Menschen einsetzen, dann tun die Bibliothekare nicht nur Gutes, sie bringen den Menschen diesen Beruf auch wieder näher. Man sieht uns nicht mehr als tatenlose Bücherwürmer, sondern als wichtige Berater.

Liebe Bibi, ich weiß, dass die Veränderungen, die von den Bibliothekaren verlangt werden, beängstigend oder nervig oder belebend oder frustrierend wirken mögen, oder auch alles zusammen. Aber eines solltest Du Dir bewusstmachen: Was aus den Bibliotheken wird, hängt letztendlich von Dir und den Menschen ab, für die sie da sind. Unsere Gesellschaft braucht dringend engagierte Berater, die ihr helfen, klügere Entscheidungen zu treffen. Die Mittel, die man dafür einsetzt, sind vielleicht andere geworden, aber ihre Aufgabe, die Gesellschaft durch Bildung zu verbessern, bleibt letztlich gleich. Das war so, als Du zum ersten Mal einen Schritt in die Bibliothek setztest, und das wird auch noch so sein, wenn Du mit der Bibliothek auf die Menschen zugehst. Bibi, Kopf hoch, Du machst das schon!

Herzlich,

Dein David


Aus dem Englischen von Karen Witthuhn

 

Richard David Lankes

Richard David Lankes ist Professor für Bibliothekswissenschaften und Direktor der School of Library and Information Science der University of South Carolina USA. 2017 erschien auf Deutsch "Erwarten Sie mehr! Verlangen Sie bessere Bibliotheken für eine komplexer gewordene Welt", hrsg. und mit einem Vorwort von Christoph Hobohm (Simon Verlag für Bibliothekswissen), eine Streitschrift für den Wandel von der Bibliothek für die Menschen zu einer Bibliothek der Menschen, der Community.

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