Wer ist Robin Green-Touré? Erzählung über eine Videospielprogrammiererin der Zukunft

Juan S. Guse

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Ich war erschöpft von der langen Busfahrt, als ich beim Motel ankam, gelegen im Stadtteil Hialeah. Es wurde bereits dunkel und die Abendluft des Viertels roch nach frischen Abfallfeuern in irgendwelchen Hinterhöfen. Alles hier hatte die enttäuschende Weitläufigkeit eines Gewerbegebiets. Ich sah Menschen leblose Alligatoren aus ihren Häusern tragen und zu den Mülltonnen auf dem Bürgersteig legen. Im Internet hatte ich zuvor gelesen, dass die Gegend zur Heimat der Ringervereine geworden sei, deren Dasein um das regelbasierte Kämpfen und das gewaltsame Bezwingen der Tiere kreiste. Sie lungerten vor ihren Vereinshäusern wie Friseure ohne Kundschaft, spielten Domino, tranken proteinhaltigen Tee und sahen gleichgültig dem Verkehr zu. Oben waren die Wolken.

Heinrich’s Motel war ein hufeisenförmiges Gebäude mit Parkplätzen und einem Pool in der Mitte. Der namensgebende Betreiber saß an der Rezeption, hinter ihm einige dieser Halbkugelwandlampen, in denen sich Fliegen zum Sterben versammelten. Mein Zimmer war klein und mit hellbraunem Teppichboden ausgelegt. Zum Abendessen machte ich mir eine Tütensuppe. Danach legte ich mich ins Bett und sah noch etwas fern. Eine Talkshow-Moderatorin nickte ausdauernd, während ihr Gast von den politischen Problemen der Stadt sprach. Sie wirkte bedrückt. Zum Einschlafen warf ich mir wie jeden Tag mein Dyler ein.

Am nächsten Morgen frühstückte ich an einer Tankstelle und ging nochmal die Fragen durch, die ich für mein Treffen mit Robin Green-Touré vorbereitet hatte. Den Namen hatte ich das erste Mal in einem Subreddit gelesen, in dem sich eine kleine, aber verschworene Gemeinschaft gegenseitig experimentelle Videospiele empfahl. In diesem Zusammenhang wurden auch die Arbeiten einer Entwicklerin namens RGT immer wieder erwähnt. Es hieß, ihre Spiele würden nicht nur neue Perspektiven auf etablierte Genres werfen, sondern seien fast immer von einer subtilen Handlung getragen, die auf eine seltsame Weise kritisch war und berührte, ohne aufdringlich zu sein. Viele im Forum sahen ihre Arbeiten als Leuchtspurmunition der Hoffnung in der von christlich-amerikanischem Konservatismus verkrusteten Videospielindustrie und verglichen sie mit Kathy Acker, El Greco, H.P. Lovecraft, Arthur Rimbaud und Sylvia Plath, von denen ich allerdings noch nie etwas gehört hatte.

Über ihre Person war nur wenig bekannt, selbst ob Green-Touré wirklich ihr Nachname war. Andere glaubten, RGT sei in Wirklichkeit ein einsamer Mann, der in seinem Keller in rauen Mengen US-amerikanische Kultur verschlang. Und wiederum andere mutmaßten, dass es sich möglicherweise um mehrere Personen handelte. Ein User behauptete, auf dieselbe Grundschule wie sie gegangen und ein guter Freund von ihr gewesen zu sein: „Sie hat schon damals in ihrer Freizeit Brett- und Pausenhofspiele entworfen, die aber meistens niemand von uns verstand. Im Gedächtnis geblieben ist mir außerdem so ein rollenspielartiges Planspiel namens MERKWÜRDIGE DINGE INC. Das sollte nur ein einziges Mal gespielt werden, sich dafür aber über mehrere Wochen ziehen. Wir spielten dabei uns selbst: Schüler an der William- Gass-Grundschule in West Little River, Miami, an der merkwürdige Dinge zu geschehen begannen. Die Grenzverläufe des Spiels waren schwammig. Was eine Fährte und was nur ein belangloser Zufall war, sollten wir durch Investigation und Kombinationsgabe herausfinden. Ein zentrales Element waren Kassettentapes und Notizen mit handlungstreibenden Informationen, die Robin nicht nur auf dem Pausenhof, sondern im ganzen Viertel verteilt hatte. Bei den Tapes handelte es sich um tagebuchartige Einträge eines Schülers namens Bokaj Nolte, der unter ungeklärten Umständen verschwunden war. Die Aufnahmen sollten stückweise offenbaren, auf welches dunkle Geheimnis Nolte gestoßen war, als er zufällig in der Pause ins Lehrerzimmer gekommen war. Dessen zunehmend nervös klingende Nachrichten offenbarten, dass extraterrestrische Wesen seit Jahren unentdeckt auf der Erde lebten, mit dem Ziel, die Menschen in Großraumbüros mit Raumteilern und Wasserspendern zu sperren. Die Spielregeln und Eventualitäten kannte nur Robin. Zur Steuerung des Geschehens hatte sie angeblich einen Kalender mit einem straffen Zeitplan, auf dem die Termine für das Eintreffen neuer merkwürdiger Dinge eingetragen waren; zum Beispiel mit Kreide beschmierte Straße, Zeichen im Sandkasten oder kryptische Sprachnachrichten auf Anrufbeantwortern. Doch fast nichts ging davon auf. Wir suchten schon nach drei Tagen nicht mehr nach den Kassetten und der Wind wehte die versteckten Zettel davon, der Regen spülte die Kreide weg.“

Selbst wenn diese Geschichte erfunden war, so deckte sie sich zumindest mit dem experimentellen Geist von RGTs Frühwerk, das von ihr selbst als Teenage-Angst-DLC vor vier Jahren auf Github hochgeladen  worden war. Darin enthalten waren unter anderem Titel wie Eltern in Flammen, Fang den Stift, Panzerkrieg in Europa, Wintermute Deluxe, Eltern in Flammen II, Gutes Sportspiel, Das nicht so spannende Haus sowie zahlreiche titellose Text-based Adventure Games.

Ihre späteren Arbeiten zeichneten sich vor allem durch ihre Versessenheit auf Details und das Experimentieren mit Spielmechaniken aus. Zum Beispiel unterwanderte der Sidescrolling Shoot ’em up Zerstören und Verwalten die konventionelle Vorstellung eines erfolgreichen Endes. Dort verteidigte man als US-amerikanische Kampffliegerin den ressourcenreichen Nordpol gegen russische Abfangjäger. Nach Abschluss der letzten Mission endete das Spiel jedoch nicht. Stattdessen begann ein menübasiertes Managergame, das in der Verwaltungsabteilung der Airforce in Nevada spielt, die den durch den im ersten Teil des Spiels verursachten Versicherungsschaden und anderen bürokratischen Aufgaben nachgehen muss, wie Kondolenzschreiben aufsetzen oder den nächsten Einsatz der Nordpol-Staffel vorbereiten. Und sobald man mit diesen schmerzhaft langweiligen Aufgaben fertig war, schlüpfte man in die Rolle der Pilotin, um genau diesen vorbereiteten Einsatz zu fliegen, bei dem es sich aber natürlich um nichts anderes als wieder den ersten Teil des Spiels handelte, sodass man sich in einem endlosen Zyklus gefangen sah, der sich bis in die Ewigkeit wiederholen würde: zerstören und verwalten, zerstören und verwalten.

Ich durchforstete das Internet und stellte fest, dass bisher noch niemand außerhalb des Subreddits etwas über Robin GTs Arbeit geschrieben hatte, und wollte die Geschichte unbedingt aufgreifen und sie Kotaku als Artikel anbieten; nur ein paar Wochen zuvor hatten sie meinen ersten Text veröffentlicht und nun wollte ich nachlegen, um der Redaktion im Gedächtnis zu bleiben.

Nach wochenlanger Recherche gelangte ich über Umwege an Robins E-Mail-Adresse und wir verabredeten uns zu einem Treffen in einem Videospielantiquariat, das Robin zögerlich vorgeschlagen hatte. Es war mein erstes Mal in Miami. Alles an Downtown war enger und gedrungener, als ich es mir vorgestellt hatte. Die dicht an dicht stehenden Hochhäuser von Fujitsu, Chevron, World Fuel Services, Canon, Merck, Lenovo, Johnson & Johnson, Mitsubishi, Siemens, Petrobas und Bank of China, die schmalen Lücken und Gassen, die allgegenwärtige Neonreklame.  

Im Schaufenster des Antiquariats versammelten sich vor allem Klassiker wie die Atari 2600, NES und SNES, die Genesis, PS und PS2, die melancholische Saturn, die N64 und die Dreamcast. Über der seltsam verzierten Eingangstür stand: ‚Willkommen im Zirkus‘. Es war nicht zu übersehen, dass das Threed als Hommage an Earthbound konzipiert worden war, denn als ich den Laden betrat, erklang das unverwechselbar feierliche Audiofile, das abgespielt wird, sobald sich ein neuer Char dem Team anschließt. Kunden waren keine da, nur ein Mann hinter dem Tresen. Drahtig, lang, mit leicht eingefallenen Wangen, kräftigem Kinn, einer roten Basecap und der Statur eines Sportkletterers war er auf eine Weise anziehend. Da ich zu früh da war, kamen Horacio und ich ins Gespräch. Die Geschäfte würden schlecht laufen, erklärte er mir. Ob er mir etwas über Robin erzählen könnte, fragte ich. Er meinte, sie käme oft hierher, die beiden hätten sich während des Informatikstudiums kennengelernt. Horacio beschrieb sie als Asketin, die zurückgezogen lebe, lange Zeit anonym veröffentlicht und das Schaffen von Spielen als Leidenschaft vor der Außenwelt zu schützen versucht habe.

„Das war ein schmerzhafter Prozess voller Paranoia und Narzissmus. Sie meinte immer, die Vorstellung mache sie geisteskrank, dass sich irgendwer mal ihre Sachen installieren könnte. Um diesen Gedanken abzuschütteln, hat sie bis heute immer eine Reißzwecke dabei, die sie sich bei Selbstzweifel langsam seitlich des Nagelbettes in den Daumen steckt.“

Ich fragte ihn, ob sie mal eine besondere Erfahrung oder Vorbilder erwähnt habe, die sie geprägt hatten. Er überlegte kurz, bevor er meinte, dass sie manchmal von jenem Moment sprach, als sie das erste Mal die Nase ihres Raumschiffs in Star Fighter für den Omega PC immer weiter nach oben zog und bemerkte, dass sie niemand daran hinderte die Biosphäre zu verlassen, weil es keine Skybox gab, die sie davon abhielt, auch durch die Stratosphäre bis in das Weltall zu stoßen.

„Auch wenn es da oben nichts zu tun gab, man konnte es trotzdem tun. Das war ihr Punkt. Ich glaube, die Welt von Star Fighter hatte für sie erst durch diesen nutzlosen Ort und die Möglichkeit, ziellos im All zu treiben, während unter einem alles lag, was es zu tun gab und getan werden musste, alle Ziele und Aufgaben, alle eigentlichen Prinzipien des Spiels, von denen die Betriebsanleitung und die Verpackung sprachen, seine Existenzberichtigung. Außerdem mochte sie schon immer die Raumfahrt.“

Als Horacio sie an der Universität kennenlernte, habe sie gerade damit begonnen, sich mit prozeduraler Synthese und quasi-zufällig generierten Leveln zu beschäftigen. Sie habe damals viel Akalabeth, Rescue On Fractalus!, die ersten Versionen von Dwarf Fortress aber auch Elite und The Sentinel gespielt.

„Ich erinnere mich, dass sie ein einziges Mal etwas bei einem Wettbewerb eingereicht hat. Wurde aber abgelehnt. Sie gab sich natürlich desinteressiert, aber man konnte sehen, wie sich ein parasitärer Schmerz gegen ihren Willen in ihr ausbreitete.“

Ob sie Lohnarbeit nachgehe, fragte ich. Horacio nickte. Sie arbeite bei Nowak, einem Life-Science- Konzern, der sein Geld mit allem Möglichem verdiene, von Breitbandherbiziden bis zu künstlichen herangezüchteten Muskeln und Organen. Seit mittlerweile mehreren Jahren hätte Robin da eine gut bezahlte Stelle. Sie hasse aber ihren Beruf, ihre Kollegen und die Gespräche in den Kaffeeküchen mit den personalisierten Tassen. Sie habe mal gemeint, es sei nicht dieselbe Leere wie die Einsamkeit eines Nachmittags auf der Couch alleine mit Wiederholungen von Cartoons, die sie befalle, wenn sie im Büro saß. Eine Mischung aus Niedergeschlagenheit, leichten Kopfschmerzen, Müdigkeit, Gereiztheit, die sie vom Klingeln des Weckers bis zum Abstechen ihrer Arbeitszeit begleiten würden wie ein gefährlicher, unbekannter Mann.

Als Robin nach einer Stunde immer noch nicht aufgetaucht war, versuchten wir sie am Telefon zu erreichen, doch ohne Erfolg. Ich war deprimiert und glaubte, um meine Geschichte betrogen zu werden. Geld hatte ich noch für zwei Monatsmieten. Ich blieb noch eine weitere Stunde im Antiquariat und vertrieb mir die Zeit mit Daytona USA, Street Fighter II und Metal Slug 3, während Horacio ein bisschen Inventur machte und die sich gelegentlich in den Laden verirrenden Kunden beriet.

Nach drei Stunden des Wartens fragte ich Horacio, ob er mir ihre private Wohnadresse verraten könnte. Ich erklärte ihm, dass ich den langen Weg aus Chicago nur ihretwegen gefahren sei und dass ich es gut meine. Ich wolle mich ihr auch nicht aufdrängen und natürlich werde sie nie erfahren, woher ich die Information habe, versicherte ich.

„Das ist eins meiner Lieblingsspiele“, meinte Horacio und hielt mir Broken Sword: The Shadow of the Templars hin.

Robin wohnte im westlich gelegenen Stadtteil Coral Way, nur eine halbe Stunde vom Threed entfernt. Es war eine unscheinbare, kleinbürgerliche Wohnsiedlung mit niedrigen Häusern, Vorgärten, Klimaanlagen, Briefkästen und F150s und Honda Civics in den Einfahrten. Die Sonne ging bereits unter und die Nachbarn fingen an, das Gartenspielzeug ihrer Kinder aufzusammeln und durch die offenen Fenster ins Haus zu werfen. Sie schlossen ihre Garagen ab, richten ihre Satellitenschüsseln neu aus, stellten ihre Alarmanlagen scharf, ließen die Hunde los, aßen zu Abend.

Robins türkisfarbenes, zweistöckiges Haus war als einziges von wuchernden tropischen Pflanzen, Büschen und Bäumen umschlossen, als verstecke es sich vor der Sonne. Auf dem Dach standen zwei verrostete Klappstühle, auf denen Papageien saßen und mich beobachteten. Ich klingelte und wartete. Niemand öffnete die Tür. Dabei sah ich Licht in einem der oberen Zimmer brennen. Außerdem glaubte ich, Schritte und knarzendes Holz im Inneren zu hören. Ich blickte nach oben, klingelte nochmal, trat ein paar Schritte von der Tür zurück, rief Robins Namen und dass ich wegen des Kotaku-Interviews käme. Noch eine Weile stand ich in ihrem Vorgarten und blickte zum Fenster hoch, winkte. Vielleicht hatte sie Kinder, fiel mir dann ein, das hatte ich Horacio nicht gefragt, und kam mir plötzlich irgendwie schäbig und erbärmlich vor.

Als ich unverrichteter Dinge zum Motel zurückkehrte, befreite Heinrich gerade mit einem Kescher den Pool von Kakerlaken, Mäusen und anderen Tieren, die hineingefallen waren, angezogen von den Lampen und dem Geruch von Chlor. Sein Gesicht war erleuchtet vom schimmernden Licht, das sich im Wasser reflektierte. Er fragte, ob alles in Ordnung sei.

„Ungefähr“, meinte ich.

In meinem Zimmer hatte sich über Tag die subtropische Hitze Floridas angestaut. Ich schaltete die Klimaanlage an und sie begann, lautstark Kältemittel zu komprimieren. Enttäuscht vom Verlauf meiner Reise und Recherche, nahm ich ein Bad und sah dabei fern, vor allem lokale Nachrichtensender. Sie zeigten, wie Verkehrsunfallopfer aus Wracks ragten und alles vollbluteten und unten stand in weißer Schrift auf rotem Grund: ‚Die Leute ragen aus dem Wrack und bluten alles voll.‘ Dann wieder wurden Aufnahmen von Häusern gezeigt, in denen ein Mord geschehen war und zwei Moderatoren schäumten über vor Wut über die Tragödie. Ich stellte mir vor, wie sich Menschen in Miami stundenlang dieses Zeug reinfuhren und nur in Ruhe schlafen konnten, wenn sie sich ein intelligentes Kopfkissen ein paar Kanäle weiter bestellten.

Als ich aus der Badewanne stieg, sah ich, dass Robin mir eine E-Mail geschrieben hatte. Sie meinte, es tue ihr leid, mich versetzt zu haben, aber sie habe es sich anders überlegt und bat mich, keinen Artikel über sie zu schreiben. Sie sei gerade in einer schwierigen Phase. Der E-Mail angehängt wäre jedoch ein Downloadlink, der zu der Installationsdatei eines Spiels namens Robin führe, an dem sie gerade arbeite. Als Entschädigung, dachte ich und installierte das Programm.

Ein Startmenü gab es nicht, man wurde danach sofort ins Geschehen geworfen. Robin stellte sich als ein Point-and-Click-Adventure heraus, das von einem jungen Programmierer namens Robin handelt, der komplizierte und kritische Spiele schreibt, für die sich niemand interessiert, und der deshalb zunehmend zynischer und depressiver wird. Er lebt in einer kleinen Wohnung zusammen mit seiner sprechenden Katze Stefan*, dem Beine, Schwanz, Ohren und Teile seiner Nase abgefroren waren, als er für zwei Tage in einem Kühlhaus eingesperrt gewesen war. Wenn man ihn anklickte, sagte Robin manchmal zu sich selbst: „Ich beneide seine hilflose Gleichgültigkeit, seine Lethargie. Ein Haufen Organe, in Haare gewickelt.“

Obwohl sich die Spielwelt auf dessen Wohnung beschränkte, gab es recht viele Dinge, die man tun konnte. Zum Beispiel sich einen Kaffee machen, Radio hören, eine Zeitschrift lesen, die Post holen, Möbel umsortieren, sich mit Stefan unterhalten, E-Mails checken, aus dem Fenster schauen, Entwürfe für neue Games durchgehen, den Küchenmüll untersuchen, schlafen, sich im Spiegel betrachten und sich selbst sagen, dass man ein selbstmitleidiger Versager ist, seinen Bruder oder Freunde anrufen, sich duschen oder Snow Crash, Akira und Mona Lisa Overdrive lesen. Man konnte sich sogar an den Computer setzen und ein vollfertiges Spiel in Assembler programmieren. Manchmal kam außerdem seine Freundin Daria vorbei — eine junge Frau, die exotische Hawaiihemden mit Dinosauriermotiven trug — und die beiden schliefen miteinander. Und dann gab es noch die Tür zu einem abgeschlossenen Zimmer, das er offenbar nie betritt und aus dem furchteinflößende Geräusche kamen; wenn man sie anklickte, sagte Robin nur: „Ich möchte darüber jetzt lieber nicht nachdenken.“

Durch das Erkunden der Wohnung erfuhr ich nach und nach mehr über den Protagonisten, über die merkwürdige Stadt, in der er lebt, über dessen familiären Hintergrund. Vor allem war das Spiel jedoch voller Pointen und Referenzen auf RGTs eigenes Oeuvre, auf Bücher und Filme sowie vermutlich auch auf das Leben von Robin Green-Touré. Es war eine düstere, intime und dennoch unterhaltsame Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Arbeit als Künstlerin, ohne Metaphysik des Suchens und Findens und Verstehens. Ich verbrachte die halbe Nacht damit, jeden Winkel der Wohnung zu erforschen, jeden Gegenstand zweifach und dreifach in die Hand zu nehmen, in dieser und jener Reihenfolge.

Um vier Uhr nachts schlug ich schließlich müde den Laptop zu. Mein Nacken war steif vom Starren und ich hatte noch immer das Frotteehandtuch um meinen Kopf gewickelt. Vor dem Fenster meines Motelzimmers rotteten sich Moskitos zu pulsierenden Schwärmen zusammen. Ich versuchte zu schlafen, doch obwohl ich mir bereits drei Dyler eingeworfen hatte, fand ich keine Ruhe und wälzte mich im Halbschlaf hin und her, während draußen auf den Straßen Schwadronen und Militante lautstark ihre Parolen grölten.

Wieder zuhause in Chicago saß ich knapp zwei Wochen an dem Artikel für Kotaku, dessen Kern größtenteils aus Beschreibungen einiger ihrer besten Spiele und Screenshots bestand, erzählerisch zusammengehalten vom Mythos um ihre Person und der misslungenen Reise nach Miami. Meine Eltern riefen mich in der Zwischenzeit immer mal wieder an und meinten, sie würden sich Sorgen um mich machen.

Wenn ich nicht gerade unterwegs war, arbeitete ich in der Regel an meinem alten Tower-PC. Ich beschloss, auf diesem noch einmal Robin zu installieren, um sicherzugehen wirklich alle interessanten Details berücksichtigt zu haben. Doch als ich das Programm startete, fiel mir auf, dass es überall kleine Änderungen zu der Version gab, die ich zuvor auf meinem Laptop gespielt hatte. Hier und da waren Farben und Texturen ausgetauscht und überall neue Gegenstände in der Wohnung platziert worden. Es war, als wäre alles seit meinem letzten Besuch an diesem Ort angewachsen. Wäsche türmte sich auf der Waschmaschine, andere Bücher standen in den Regalen und die Skizzen und Entwürfe für neue Spiele hatten sich weiterentwickelt und waren komplexer geworden.

Ich begann mich erneut durch sämtliche Möglichkeiten zu klicken, auf der Suche nach etwas, das ich noch in meinem Artikel erwähnen könnte. Also ging ich wieder zur verschlossenen Tür, in die Küche, ins Wohn- und Badezimmer. Ich machte mir wieder Kaffee, telefonierte mit meinem Bruder, schlief mit Daria, las die E-Mails und hörte Musik. Als ich dann ans Fenster ging und hinausschauen wollte, sah ich dieses Mal eine junge Frau, die gerade den Müll rausbrachte. Offenbar eine Nachbarin. Die Nachbarin warf ihre Müllbeutel in eine der schwarzen Tonnen. Als sie sich umdrehte und zu mir hinaufblickte, erschrak ich. Ich sah mich selbst, wie ich bei der Mülltonne stand, hochblickte und winkte, einfach so. Ich wendete mich vom Fenster wieder ab. Im Hintergrund lief noch immer ein Album von Mazzy Star, das ich angeschaltet hatte. Sandovals resignierte Stimme verlieh dem Wohnzimmer etwas Sphärisches. Auf dem Fernseher war ein Standbild. Die Katze war von der Couch gefallen und lag hilflos auf dem Rücken. Sein leerer Blick verriet, dass es ihm nicht egaler hätte sein können, was sie mit dem Rest meines Lebens anstellte, weil er nur eine Katze war, die nicht wusste, was ein Fernseher ist oder Lohnarbeit und der Verkauf der eigenen Arbeitskraft.

 

* Guse gendert in seinen literarischen Arbeiten, indem er mal weibliche, mal männliche Formen benutzt. Er wendet dieses Verfahren auch bei Tieren an, hier die Katze, die den Namen eines Katers trägt.

 

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Juan S. Guse

Juan S. Guse, geboren 1989 in Seligenstadt, studierte Literaturwissenschaften und Soziologie. Mit Miami Punk (S. Fischer 2019), seinem zweiten Roman, begeisterte der 30-jährige, promovierende Soziologe bei weitem nicht nur die Feuilletons. Der Computerspiel-Roman sei, so Lars Weisbrod in der ZEIT, „das irrste Buch des Jahres“, ein „Power-Roman, den man der deutschen Gegenwartsliteratur nicht zugetraut hätte.“ Für seine Arbeit erhielt er bereits zahlreiche Auszeichnungen; zuletzt ein Fellowship der Künstlerresidenz Villa Aurora in Los Angeles und ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquium Berlin.

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