Am 12. Februar 2005 findet die Premiere der neuen Berliner Fassung von Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin statt. Einhundert Jahre nach dem Matrosenaufstand von Odessa, auf den sich der Filmklassiker bezieht, und achtzig Jahre nach seiner Erstaufführung in Moskau entsteht mit diesem Projekt der Kulturstiftung des Bundes eine Filmfassung mit einer bislang unerreichten Nähe zum Original von 1925. Enno Patalas, ehemaliger Direktor des Filmmuseums München und künstlerischer Leiter des Projektes, erklärt die historischen Irrfahrten des Panzerkreuzer Potemkin.
Ein Ruf wie Donnerhall: das Werk, das wie kein anderes die Vorstellungen geprägt hat, die das 20. Jahrhundert sich vom Film ‹als Kunst› machte. Mit dem Panzerkreuzer Potemkin fand der Film zu seiner Identität als technischem Medium: Was es vorher gegeben hatte, Dokumentaraufnahme und Erzählkino, Trick und Slapstick, aufgehoben in einer neuen, revolutionären Form. Nicht mehr nur gespielte und veranschaulichte Literatur, sondern Konstrukt aus fotografierten und montierten Realitätspartikeln, (Masse) Mensch und Maschine Triebkräfte ein und desselben dynamischen Prozesses. Im Ruf des Potemkin mischen sich das Echo des Effekts, den er bei seinem Erscheinen in den 20er Jahren machte, und der Eindruck, den er bei Neuaufführungen machte. Der Potemkin war nie ein «verlorener » oder «vergessener» Film. 1958 wählten hundert Filmhistoriker aus aller Welt ihn zum «besten Film aller Zeiten». Zu sehen war er damals in einer Tonfassung von 1950, in der ein paar Dutzend Einstellungen fehlten oder umgesetzt waren, mit Lenin-Zitaten vorneweg («Revolution ist Krieg. Von allen Kriegen, die die Geschichte kennt, ist das der einzige legitimierte, rechtmäßige, gerechte, wirklich große Krieg. In Russland ist dieser Krieg erklärt worden.») und im Schlusskommentar. In der Bundesrepublik wurden wiederum diese und überhaupt alle Titel ersetzt durch einen Text von Friedrich Luft, der die künstlerischen Meriten des Films pries und seine historischen Implikationen kleinredete.
Die Geschichte des Panzerkreuzer Potemkin, seines Erfolgs, seiner Beschädigungen, seines Weiterlebens, ist Teil der deutschen wie der russischen Geschichte, an der schon die biografische Prägung seines Autors teilhatte: Eisenstein schrieb, sprach, dachte deutsch, sein Russisch klang wie übersetzter Hegel. Der Erfolg des Potemkin beim Moskauer Publikum wurde von dem in Berlin überholt. Volkskommissar Lunatscharskij 1928: Die beste Reklame für den Potemkin sei der Wunsch gewesen, «den Film zu sehen, der uns unseren ersten Sieg auf dem ausländischen Filmmarkt eingetragen hatte.» Was aber war das für ein Potemkin, den die Berliner zu sehen bekamen? Der Regisseur Piel Jutzi (später: Mutter Krausens Fahrt ins Glück und Berlin Alexanderplatz) hatte aus Eisensteins fünf Akten — mit eigenen Titeln — sechs gemacht, das Drama so zur Chronik verflacht, woran auch seine Zwischentitel und pseudodokumentarischen Inserts teilhatten. Kein «Kettenglied der revolutionären Arbeiterbewegung Russlands», sondern «eine irgendwie zufällige, untypische Meuterei mit historisch neutralem Hintergrund », fand Eisenstein, als er im Frühjahr 1926 nach Berlin kam. Im Vorspann sah er seine Laiendarsteller zu Mitgliedern des Moskauer Künstlertheaters befördert. Bei seinem Berliner Besuch setzte sich Eisenstein mit dem Komponisten Edmund Meisel zusammen: «Ich formulierte meine Forderungen an Meisel für eine Musik als Rhythmus, Rhythmus und vor allem reiner Rhythmus.» Eisenstein hatte den Potemkin an anderer Stelle als seinen ersten Tonfilm bezeichnet. Diese Wertschätzung kommt nun im Verhältnis zum Komponisten zum Ausdruck: «Der ‹stumme› Potemkin erteilt dem Tonfilm eine Lektion.»
Im März 1926 verbot die Filmprüfstelle den Film zunächst ganz und gar; im April gab sie ihn frei mit 14 Schnittauflagen: «Großaufnahme eines Mannes, der mit einem Gewehrkolben auf die Füße eines auf einem Geschütz stehenden Mannes schlägt. Großaufnahme eines Mannes, der erschossen auf die Treppenstufen niedersinkt. Großaufnahme eines Mannes, über den die Füße eines Kosaken hinwegschreiten. Ein Kind wird neben seiner Mutter auf den Stufen von einer Salve getroffen. Großaufnahme des blutüberströmten Kindes und seiner Füße, über die andere hinweglaufen, endlich seines Kopfes, über den eine Frau hinwegschreitet ...» Die Änderungen wurden im Originalnegativ des Films vorgenommen, das Goskino 1926 dem linken Berliner Verleih Prometheus verkauft hatte. 1930 versuchte der den Film neuerlich in einer Tonfassung herauszubringen — ohne Zwischentitel, mit Dialog, vorzuführen mit 50prozentiger Beschleunigung — Meisel adaptierte seine Komposition dieser 45-Minuten-Fassung. In diesem Zustand kam das Negativ nach Moskau zurück — wohl nicht erst unterm Stalin-Hitler-Pakt, wie gelegentlich angenommen, sondern schon vor 1933, nach dem Konkurs der Prometheus. Die russische Fassung von 1950, mit von Stumm- auf Tonfilmnorm gestreckter Bildfrequenz und einer neuen Musik respektierte die deutsche Bearbeitung, Zensurschnitte, Umstellungen, Zusätze — ein Gerücht behauptet: mit Stalins Zustimmung. Zwischentitel wurden neu aufgenommen. Die vom Moskauer Filmarchiv Gosfilmofond ebenfalls seit den 50er Jahren weltweit verbreiteten Stummfilmkopien sind auch von einem auf das verstümmelte Nitronegativ zurückgehenden Duplikatnegativ gezogen, unter weitreichender Beibehaltung der deutschen Eingriffe. Ein paar Zusätze verraten ihre Herkunft aus der 20er-Jahre-Fassung der London Film Society, für die der Eisenstein-Freund Ivor Montagu die russischen Titel ins Englische übersetzt hatte.
Die ‹Jubiläumsfassung› von 1976, von Sergej Jutkewitsch, beraten von dem Moskauer Eisenstein-Forscher Naum Klejman, ist der bislang bemühteste und gelungenste Versuch, dem Eisensteinschen Original nahe zu kommen. Dessen Einstellungsfolge wurde wiederhergestellt, Mängel des Gosfilmofond-Materials wurden behoben durch Rückgriffe auf das Duplikatnegativ des New Yorker Museum of Modern Art, das dem Eisenstein-Schüler Jay Leyda in den 30ern eine Kopie verschafft hatte. Deren originale Titel waren bei der Umkopierung durch englische ersetzt worden, so wurden auch für die Jutkewitsch-Fassung neue gefertigt, in Text und Grafik verschieden von den alten. Und natürlich waren auch hier Bildformat und -frequenz den Tonfilm-Erfordernissen und der für den Film arrangierten Schostakowitsch-Musik angepasst. Für die Sicherung des Films in seiner ursprünglichen Form brachte das Jubiläum nichts.
1986 konfrontierte die Frankfurter Junge Deutsche Philharmonie uns im Münchner Filmmuseum mit dem Wunsch, für Aufführungen mit der Meisel-Musik eine Kopie bereitzustellen. Wir schnitten eine Gosfilmofond-Kopie um, ergänzten sie in großer Eile mit Duplikaten aus dem Londoner National Film Archive und versahen sie mit deutschen Titeln. Das Ergebnis war ein Kompromiss zwischen Eisenstein- und Jutzi-Fassung. Das Beste an dem Unternehmen von 1986 war die Musik, die David Shallon nach dem Arrangement von Mark Andreas dirigierte. Unvergesslich ist mir der Effekt, den bei der Aufführung in der Münchner Philharmonie das Finale des dritten Akts machte — wenn die von Hand rot gefärbte Fahne am Mast hochsteigt. An die Verve dieser Aufführungen reichte die spätere Fernseh-Einspielung nicht heran. Da die Münchner Kopie nur aus Kopien montiert wurde, trug auch das nichts zur Sicherung des Films bei. Mit der neuen ‹Berliner Fassung› bekommt die russischdeutsche Geschichte des Potemkin ein neues Kapitel. Zwar erwies sich die Hoffnung, auf das in Moskau verwahrte Kameranegativ zurückgreifen zu können, als illusorisch — Gosfilmofond befand es für nicht mehr kopierbar. Doch fielen Tests des Bundesarchivs mit den zunächst nur als Ergänzung gedachten Londoner Kopien positiv aus. Das waren vor allem, neben einem Duplikat der Montagu-Fassung, die zwei Kopien der ersten Generation, also direkt vom Kameranegativ gezogen — eine Ende der 20er Jahre aus Deutschland importierte, in der die Jutzi-Titel durch ihre englische Übersetzung ersetzt waren, und die dem Londoner Archiv vom MoMA überlassene Kopie, in der die 133 der ursprünglich 146 Zwischentitel sich erhalten hatten. In der Berliner Kopie — genauer: in dem davon gezogenen gezogenen Duplikat — mussten erst einmal die deutschen Eingriffe rückgängig gemacht werden, 36 Komplexe, 60 Einstellungen, waren umzusetzen; eine Einstellung war seitenverkehrt — wohl die Beseitigung eines «falschen Anschlusses»: Bei Eisenstein hat der Pope in unmittelbar aufeinander folgenden Einstellungen das Kruzifix mal in der Linken, mal in der Rechten. 33 Einstellungen fehlten dann immer noch. 25 fanden sich in der Ex-MoMA-Kopie, sieben in einer Kopie der Gosfilmofond-Fassung aus dem ehemaligen Staatlichen Filmarchiv der DDR und eine in Montagus Version.
Insgesamt kommt die neue ‹Berliner Fassung› auf 1.370 Einstellungen, 15 mehr als die bisher vollständigste, die ‹Jubiläums-Fassung›, 45 mehr als die Gosfilmofond-Überlieferung. Dazu die 146 Vorspann- und Zwischentitel; die 13 in der MoMA-Kopie fehlenden ließen sich nach Moskauer Quellen rekonstruieren, darunter das legendäre Trotzkij-Motto. Es geht so: «Der Geist der Revolution schwebte über dem russischen Lande. Irgendein gewaltiger und geheimnisvoller Prozess vollzog sich in zahllosen Herzen: die Individualität, die eben erst sich selbst erkannt hatte, ging in der Masse und die Masse in dem großen Elan auf.» Große Worte, die am Anfang eines Filmes standen, der nicht aufhört, in der weltweiten Masse der Kino-Begeisterten aufzugehen. Das Publikum hat auf das Trotzkij-Motto lange verzichten müssen. In der neuen Berliner Fassung ist auch diese Passage des Filmes wieder komplett — ein Potemkin, wie ihn die Massen von 1925 zu sehen bekamen.