Warum Gedenkjahre?

Von Thomas Macho

Das Jahr 2005 ist das Jahr der kulturgeschichtlich prominenten Gedenkjahre: 100 Jahre Relativitätstheorie, der 50. Todestag Albert Einsteins und der 200. Todestag Friedrich Schillers sind Anlass für ein Einsteinjahr und ein Schillerjahr. Die Kulturstiftung des Bundes beteiligt sich an beiden Ereignissen mit einer Reihe von Projekten. Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho gibt einen kurzen Abriss über die Geschichte der Jubiläen und Gedenkjahre vom Kirchenjahr zum Prominentenkalender.

Gedenktage und Gedenkjahre sind symbolische Konstruktionen. Sie bezeugen die politische Herrschaft über die Zeit, die der Herrschaft über Territorien entspricht. Während die Befehlsgewalt über den Raum als geradezu selbstverständliche Konstitutionsleistung politischer Systeme verstanden werden kann, wird die Unterwerfung der Zeit häufig unterschätzt oder vergessen. «Man könnte sagen, dass die Ordnung der Zeit das vornehmste Attribut aller Herrschaft sei», behauptet Elias Canetti in Masse und Macht. Denn nach «Ordnungen der Zeit lassen sich Zivilisationen noch am ehesten umgrenzen. Ihre Bewährung besteht in der Dauer ihrer geregelten Überlieferung. Sie zerfallen, wenn niemand diese weiterführt. Ihre Zivilisation ist zu Ende, wenn es ihr mit ihrer Zeitrechnung nicht mehr ernst ist.»(1) Darum haben manche Herrscher versucht, sogar ihre Namen dem Kalender einzuprägen: der Monat Juli erinnert heute noch an Julius Caesar, der Monat August an Kaiser Augustus. Selbst Napoleon Bonaparte soll zumindest auf einen persönlichen Kalendertag gehofft haben: nämlich auf den 15. August. Heute begnügen wir uns nicht mehr mit Tagen oder Monaten, wie etwa das Gedenkjahr 2005 bezeugt: Friedrich Schiller und Albert Einstein werden ganze Jahre gewidmet.

Auf das Schillerjahr und das Einsteinjahr 2005 haben sich die Verlage, die Feuilletons, die Theater und andere Kulturinstitutionen schon mit langem zeitlichen Vorlauf vorbereitet. In Österreich sieht es nicht anders aus, nur werden dort andere Jubiläen begangen: 2005 sind es gleich dreizehn: vom hundertsten Geburtstag Bertha von Suttners bis zum fünfzigsten Jahrestag der Unterzeichnung des Staatsvertrags und dem zehnten Jahrestag des Beitritts zur Europäischen Union; zugleich wirft das Mozartjahr 2006 aber schon seine Schatten voraus. Wir leben offenbar im Horizont einer Zeitrechnung, die sich an Gründergestalten und bekannten Namen, an Genies und Prominenten orientiert. Das traditionelle Kirchenjahr wird zunehmend von einem profanen Heiligenkalender, einem «Starkalender» abgelöst; zugleich wird die Hoffnung auf Unsterblichkeit im Himmel durch die (antike) Hoffnung auf Unsterblichkeit im Nachruhm ersetzt. Ruhm und Prominenz werden von den technischen Medien — Tagespresse, Radio, Film, Fernsehen, Internet — verbreitet; tatsächlich waren es auch die Medien, die zur Durchsetzung unseres gegenwärtigen Kalenders der Nekrologe entscheidend beigetragen haben. Die wichtigsten Vorarbeiten zu diesem Kalender hat dagegen die Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geleistet: etwa mit ihrer präzisen Recherche von Geburts- und Sterbedaten aller bedeutenden Persönlichkeiten. Oft können wir ein bestimmtes Jubiläum ja erst seit der Zeit begehen, in der aus irgendwelchen Tauf- oder Sterberegistern genaue Lebensdaten extrahiert wurden.

Die Frage nach neuen Festen, die eine kollektive Identität stiften könnten, wurde in den Zeiten der Gründung europäischer Nationalstaaten häufig aufgeworfen. Als Leitmodell fungierte der 14. Juli in Frankreich oder der amerikanische Independence Day am 4. Juli; doch nur wenige Nationalfeiertage erreichten die Bedeutung und das Alter des Bastille-Tags oder des Unabhängigkeitstags. Zu viele Revolutionen scheiterten oder wurden nachträglich ins Zwielicht gerückt, so dass sie keine Anlässe zu einem jährlich wiederkehrenden Festtag bilden konnten. Dabei ist das Spektrum der Möglichkeiten, einen Nationalfeiertag zu definieren, durchaus begrenzt. In Frage kommen Revolutionstage und Unabhängigkeitstage, Gedenktage an eine aktive oder passive militärische Befreiung, Verfassungs- und Republiktage, die einen staatskonstitutiven Akt — wie die Verabschiedung einer Verfassung oder die Ausrufung einer Republik — zum Ursprungsereignis erklären. In allen Ländern, die noch monarchische Regierungsformen kennen, können es auch Staatsakte des Königs sein, die ‹verewigt› werden: in Schweden wird etwa der ‹Flaggentag› am 6. Juni zur Erinnerung an den Regierungsantritt der Dynastie Wasa im Jahr 1523 gefeiert, in Belgien der 21. Juli zur Erinnerung an den Amtseid des ersten Königs Leopold I. im Jahr 1831. Einen Sonderstatus nehmen jene Nationalfeiertage ein, die — wie im kaiserlichen Rom — auf Geburtstage der Herrscher bezogen werden. Solche Königsgeburtstage als Nationalfeiertage werden übrigens heute noch in Großbritannien — Queen’s Birthday (am zweiten Samstag im Juni) —, in den Niederlanden (Königinnentag am 30. April) oder in Schweden (ebenfalls am 30. April) veranstaltet; nur die Spanier folgten der gegenreformatorischen Propaganda für den Namenstag — und feiern bis heute den königlichen Namenstag als Nationalfeiertag.

Nationale Feiertage sind häufig junge Feste mit vergleichsweise geringer kultureller Stabilität. Sie wurden auch oft genug gewechselt. «Verspätete Nationen» — wie beispielsweise Deutschland oder Österreich — haben ihre gegenwärtig gültigen Nationalfeiertage erst spät festgelegt; weshalb — ganz anders als in Frankreich oder England — darüber diskutiert werden kann, diese Feiertage etwa aus ökonomischen Gründen wieder aufzugeben oder auf einen Sonntag zu verlegen. In Deutschland wurden schon so viele Nationalfeiertage diskutiert und wieder aufgegeben, warum also nicht der dritte Oktober? So wurde beispielsweise schon am 18. Oktober 1817 eine nationale Feier auf der Wartburg bei Eisenach veranstaltet: damals wurde sowohl der dreihundertste Jahrestag der Reformation gefeiert, als auch der militärische Triumph über Bonaparte in der Leipziger «Völkerschlacht». Zuvor hatte Ernst Moritz Arndt die Einführung patriotischer Festtage vorgeschlagen: etwa einen Gedenktag der mythischen «Hermannsschlacht», den 18. Oktober oder den 2. Februar, den Todestag Andreas Hofers. In der Mitte des 19. Jahrhunderts — in einer Zeit, die heute unter dem Monatstitel des «Vormärz» abgehandelt wird — entwickelte sich ein latent aufrührerischer Geniekult, der von lokalen Vereinen besonders in Stuttgart, Breslau und Leipzig gepflegt wurde. Friedrich Schillers Geburtstag (am 10. November) wurde seit Anfang der Vierzigerjahre mit einem Umzug am 9. November begonnen und als bürgerliches Oppositionsfest inszeniert. Die Schillerfeste wurden von den Behörden nur halbherzig geduldet oder sogar verboten. Zwischen dem 9. und 11. November 1859 wurde dennoch ein nationales Fest zu Schillers hundertstem Geburtstag veranstaltet, in dessen Rahmen eine Art von Konkurrenz um das heikle Datum zur Austragung kam. Der Würdigung des Verfassers der «Räuber» antwortete die Erhebung Schillers zur Symbolfigur der Einigung des Reichs. Von 1871 an wurde Bismarck (auch im Rückblick auf die Novembertage von 1859) als «Erbe» Schillers gewürdigt, während umgekehrt Schiller als «Bismarck im Reich der Geister»(2) qualifiziert werden konnte.

Es war der auf fünf Vornamen getaufte Philosoph Isidore-Auguste-Marie-François-Xavier Comte, der bereits im Jahr 1849 einen neuen Kalender entwarf, der nicht nur die Monats-, sondern auch alle Tagesbezeichnungen ausschließlich mit den Namen prominenter Persönlichkeiten der Vergangenheit füllen wollte. Comtes «Calendrier positiviste»(3) gliederte das Jahr in dreizehn Monate zu jeweils 28 Tagen, mit einem Zusatztag im Normaljahr und zwei Zusatztagen im Schaltjahr. Mit dieser Aufteilung konnten zumindest drei Mängel des gregorianischen Kalenders behoben werden: Jedes Jahr sollte mit dem gleichen Wochentag beginnen, jeder Monat mit demselben Wochentag, und die erste Woche des neuen Jahres sollte auch immer die erste Kalenderwoche bilden. Die Monate waren (in chronologischer Reihenfolge) benannt nach: Moses, Homer, Aristoteles, Archimedes, Caesar, Sankt Paul, Karl der Große, Dante, Gutenberg, Shakespeare, Descartes, Friedrich II. und Bichat. Die Liste der Tagesprominenzen — auch eine Art von kulturellem Kanon — könnte aufgrund ihres Umfangs hier gar nicht wiedergegeben werden; sie umfasste griechische Dichter und Philosophen, Propheten und Apostel der jüdischen, christlichen und islamischen Tradition, Künstler, Politiker und Wissenschaftler. Das Datum des zweihundertsten Jahrestags von Schillers Tod, der 9. Mai 2005, wäre in Comtes positivistischem Kalendarium ein Mittwoch, der siebzehnte Tag des Monats Caesar im Jahre 217, benannt nach dem römischen Konsul Fabricius, dem Helden des Kriegs mit Pyrrhos (280 –272 v.Chr.). Comte selbst wird vielleicht im Jahr 2007 gefeiert werden: zu seinem 150. Todestag; das Jahr 2007 wäre übrigens auch das nächstmögliche Jahr (nach Comtes eigener Rechnung), in dem der gregorianische Kalender auf den positivistischen Kalender umgestellt werden könnte. Aber dazu wird es nicht kommen: Wir haben Comtes Projekt längst mit einer Vielzahl von Prominenzkalendern — Kalender für Literatur, Musik, Kunst, Philosophie, Wissenschaft, Technik, Sport, für Frauen, Männer, Schüler, Studenten, Rentner — realisiert, die zu jeder Jahreswende angeboten werden. 

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war der Kalender oder Almanach — neben der Bibel — das zweite Buch in vielen Haushalten Europas. In ihm verkörperte sich der Globalisierungsprozess als Trend zur Durchsetzung einer einheitlichen Weltzeit: von der Aufhebung lokaler Zeitzonen in eine nationale «Eisenbahnzeit» (der wir bis heute die Redewendung: «Es ist allerhöchste Eisenbahn» verdanken) bis zur Verabschiedung internationaler Abkommen zur Synchronisation und Standardisierung der Zeitmessung. Heute ist dieser Prozess abgeschlossen; Kalender haben sich vielfach ausdifferenziert, als Markenzeichen individueller Interessen, kultureller Zugehörigkeiten und spezifischer Jahresordnungen (Beispiel Schuljahr). Angesichts dieser Vielfalt drängt sich allerdings die Frage nach der tatsächlichen Bedeutung nationaler Feiertage, Jubiläen und Gedenkjahre — wie Schillerjahr oder Einsteinjahr — unabweisbar auf. Wer nimmt denn noch Gedenkjahre wahr? Wer hat das Jahr der Kinder oder der Behinderten wahrgenommen? Allzu rasch wechseln — wie die «Kulturhauptstädte» Europas — die kulturellen Inhalte und jährlichen Erinnerungsimperative. Die Einführung eines europaweiten Feiertags erscheint umso fragwürdiger, als schon auf den europäischen Geldscheinen und Euro-Münzen die Köpfe hinter den Zahlen weitgehend verschwunden sind: Lediglich Mozart, Bertha von Suttner und Dante haben überlebt. 


1 Elias Canetti: Masse und Macht. Gesammelte Werke Band III. München/Wien: Carl Hanser 1993. Seite 471 und 472 f. — Nur am Rande erwähnt: Die Zitate aus Canettis Hauptwerk erinnern mich daran, dass auch Canettis hundertster Geburtstag im Jahr 2005 begangen wird. 

2 Rainer Noltenius: Schiller als Führer und Heiland. Das Schillerfest 1859 als nationaler Traum von der Geburt des zweiten deutschen Kaiserreichs. In: Dieter Düding / Peter Friedemann / Paul Münch (Hrsg.): Öffentliche Festkultur. Politische Feste in Deutschland von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988. Seite 255. 

3 Vgl. Auguste Comte: Calendrier positiviste ou système général de commémoration publique. Paris: L. Mathias 1849.

Über den Autor

Thomas Macho ist Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin.

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