Jedem Kind ein Instrument

Von Hortensia Völckers

Wandel durch Kultur - Kultur durch Wandel: Unter diesem Slogan wird nicht nur die Bewerberstadt Essen, sondern das ganze Ruhrgebiet, 53 Städte und Kommunen - neben der ungarischen Stadt Pécs und Istanbul - im Jahre 2010 Kulturhauptstadt Europas sein. Die ‹Leuchttürme› - Theater, Museen, Ruhrfestspiele, Triennale, Kurzfilmtage, Zeche Zollverein - zahllose On- und Off-Events, soziokulturelle Projekte und multikulturelle Institutionen werden vom explosionsartigen Wachstum und vom langen Niedergang des alten Ruhrgebietes künden, die Mühen und den Glanz seiner Transformation demonstrieren und von seinen Zukunftsplänen und Visionen erzählen.
Kulturhauptstadt - was soll das überhaupt? fragen die Skeptiker. Haben wir nicht längst genug Spektakel, Festivals, Glitzerkram und lange Museumsnächte? Brauchen wir noch mehr unterirdische Erlebnislandschaften, schwimmende Kulturinseln, zu Konzerthallen und Ateliers umgewidmete Kohlengruben? Was bleibt davon, was stärkt die Kultur, was wirkt weiter? Ich antworte mit einem Traum:

An einem Sommertag im Jahre 2010 füllt sich das größte Fußballstadion des Ruhrgebietes bis zum letzten Platz mit Schülern der ersten vier Grundschulklassen. Der Rasen reicht nicht aus, sie besetzen die Ränge, die Treppen, die Gänge, so dass für die Eltern und die Honoratioren kaum Platz bleibt. Sie packen ihre Segeltuchhüllen und Instrumentenkoffer aus, und dann bringen sie ein Musikstück zur Premiere, für das sie drei Jahre lang gearbeitet haben: eine Rhapsodie für 200 000 Kinder, eine Melange aus Etüden und Improvisation, die zum Klingen bringt, was Grundschüler in drei Jahren von phantasiebegabten Lehrern im Musikunterricht lernen können, eine Suite aus Etuden und Improvisation, die sich aus der Erfahrungswelt dieser Kinder speist: Aus den Liedern, die sie von ihren Großeltern gelernt haben, die aus Italien, Spanien, Kurdistan und Anatolien stammten oder bereits vor 100 Jahren aus Galizien in die Kohlenstädte wanderten. Dazu die Gassenhauer der Gegenwart, die Radioschnulzen und a cappella-Gesänge der Migrantenküchen, Turk-Rock und klassische Fetzen, Shakira und Grönemeyer, neuesten Teenie-Rap und den Rock'n Roll ihrer Eltern. Die Lieder, die sie im Kindergarten gemeinsam gelernt und die merkwürdigen Melodien, die sie selbst erfunden haben. Und dazu, gezirpt und geblasen, gerasselt und gesungen, die Klänge ihres Alltags: die Schmalzviolinen der Werbung, der anschwellende Jubel der Stadien, die Geräusche der Straße, das Quäken der Comics und die Musik aus den Nachbarwohnungen, die Polizeisirenen und das Klopfen, wenn die allerletzte alte Fabrik im Viertel demontiert wird, die Rufe auf dem Hof, die Schiffspfeifen der Binnenhäfen, die Muzak der Shopping Malls, das Ploppen der Bälle und das Schlurfen in den U-Bahnhöfen, darunter das Gesumm aus offenen Kirchentüren und der Ruf der Moscheen - alles durcheinander, eine Collage aus Traditionen, aus Klassik und Pop, aus Ordnung und Chaos. Ein Konzert wäre das, wie es noch keines gegeben hat, eine gigantische fète de la musique, ein Ereignis, von dem sie und die Region noch lange zehren würden, weil sie drei Jahre daran gearbeitet haben.

Das ist ein Traum, mein Traum, aber es könnte auch ganz anders sein. Die zweimal Hunderttausend könnten auch beschließen, stattdessen auf allen Plätzen und in allen Parks des Ruhrgebietes zu spielen, in tausenden von kleinen Gruppen, alle gleichzeitig, an einem Tag, auf ein Kommando, oder an vielen Tagen, selbstorganisiert und dezentral. Es ist alles offen. Sie haben es in der Hand. 
Denn der Traum ist zum Projekt geworden. Und weitgehend finanziert. Jedem Kind im Ruhrgebiet ein Instrument - diese Initiative ist so groß, dass alle, die sie angestoßen haben, immer wieder einmal in Schreckstarre verfielen. Nicht nur wegen der 50 Millionen Euro, die das Ganze am Ende kosten wird. Die logistischen, rechtlichen, didaktischen Probleme, die wir damit geschaffen haben, sind eine große Herausfor-derung für Kulturämter, Grundschulen und Musikschulen. Woher kommen Musiklehrer in ausreichender Zahl und Qualität? Wer redet mit den Eltern in den von Soziologen ‹bildungsfern› genannten Schichten, um sie zu überzeugen, dass der kleine Eigenbeitrag im Monat gut ‹investiert› ist? Wie erweitern wir das Instrumentensortiment, so dass auch die migrantischen Klangfarben vertreten sind? Wie stimmen wir Schuldirektoren um, die vor zusätzliche Organisationsprobleme gestellt werden, wie begeistern wir Lehrer so, dass sie in ihren Bereitschaftsstunden mit geschulten Instrumentalisten der Musikschulen zusammenarbeiten? Brauchen wir eine Kampagne für Eltern und Nachbarn, die drei Jahre lang - und hoffentlich auch danach - die ersten Klangteppiche posaunender, blockflötender und fiedelnder Kinder aushalten müssen?

Mein Traum von der klingenden ‹Sozialen Skulptur› eines ganzen Landstrichs löste sich auf in eine Serie mittlerer Albträume, wüssten wir nicht schon, dass es prinzipiell möglich ist. Denn dieser Traum hat eine Vorgeschichte. Sie begann vor fünf Jahren, als Manfred Grunenberg, der Leiter der Musikschule Bochum, das Besprechungszimmer der ‹Zukunftsstiftung Bildung› betrat, eine Gründung der ‹Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken› (GLS), die als Pionierin der ethisch-ökologischen Banken in Deutschland gilt. Er suchte eine halbe Million Euro für das Projekt Jedem Kind ein Instrument, mit dem bis zum Jahre 2010 - «durchaus als Gegenbild zum Plan der Deutschen Telekom, bis 2006 jedem Grundschulkind einen Computer an die Hand zu geben» - alle Grund- und Sonderschulkinder in Kooperation mit den Musikschu-len der Stadt Musikunterricht an einem Instrument ihrer Wahl erhalten sollten. Die halbe Million wurde bewilligt, die Stadt Bochum, eigentlich klamm wie alle Kommunen, genehmigte Mittel für einen Ausbau der Musikschule, und seitdem wächst das musikalische Netz, getragen von einer Koalition von Stadt, Zukunftsstiftung (sie finanziert den Instrumentenkauf, märchenhafterweise aus dem Verkauf einer gestifteten Privat-Stradivari), den Familien der Kinder, die 15 oder 25 Euro monatlich bei-steuern, und schließlich und nicht unwichtig, den Lehrer/innen der Grundschulen, die am ersten, einführenden Unterrichtsjahr teilnehmen. Die Zusammenarbeit von staat-lichen Institutionen und Bürgergesellschaft funktioniert gut, aber jeder, der schon et-was Ähnliches unternommen hat, weiß, wie schwierig, zeitraubend und konfliktträchtig solche Konstruktionen sind. Aber das Netz hält und wird größer. 

Und nun soll es das ganze Ruhrgebiet überziehen. Wie kam es dazu? Ich will hier nur meinen Teil erzählen: Im letzten Frühjahr, von März bis Juni, ging ich mit meiner Mitarbeiterin Antonia Lahmé auf mehrere Recherche-Reisen ins Ruhrgebiet. Wir wollten herausfinden, ob es einen sinnvollen Beitrag der Kulturstiftung des Bundes zur ‹Kulturhauptstadt Ruhr 2010› geben könnte. Wir trafen auf Kulturdezernenten, die seit Jahrzehnten von einem ‹systematischen Ansatz in der kulturellen Bildung› träumen und nach Dienstschluss in ihrem Chor singen. Wir fuhren im Polizeiwagen durch Essen-Katernberg, nicht w eil es dort so gefährlich ist, sondern weil der Bereichsbeamte alle Jugendlichen mit Namen kennt, auch die mit den schwer aussprechbaren Namen; wir liefen über stillgelegte Zechengelände mit Gegenwartskunst und hörten uns nostalgische Taxifahrersprüche über die künstliche Beatmung von Orten an, an denen er und seine Kollegen noch geschuftet, gelitten und gelebt ha-ben. In Linoleumfluren backsteingotischer Kulturämter stolperten wir über Fachkompetenzstreitigkeiten und in einem Universitätsbüro ließen wir uns vom kostenlosen Kleingruppenförderunterricht erzählen, in dem Studenten mit 800 Kindern aus 46 Nationen arbeiten; unter den funktionslos gewordenen Fördertürmen der Zeche Carl trafen wir einen Pfarrer, der noch unter Windmühlen am Niederrhein aufgewachsen war und nun hier seit 25 Jahren nach Arbeit für Jugendliche sucht - und kein Ende seiner Arbeit sieht; wir sprachen mit einem Schulleiter, der Hoffnung auf die ‹neue Religiosität› setzte und mit Theaterleiterinnen, die mit ehrenamtlichen Streetworkern Kids von der Straße holen und mit ihnen an einem säkularen, theatralischen ‹Kanon für Städtebewohner› arbeiten; wir saßen zwischen nervösen Eltern in der Essener Philharmonie, deren Kinder - Italiener, Russen, Türken, Deutsche - sich im Labyrinth der Hinterbühne blind auskennen. Wir wanderten durch die künstliche Sohle des Bergbaumuseums und durch Duisburg - Marxloh, wo man in einer Straße alles kaufen kann, was man für eine türkische Hochzeit braucht und wo eine Handvoll höchst aktiver Frauen Geld für die größte Moschee Deutschlands zusammengesammelt hat. In Duisburg fragten wir uns vor einem halbfertigen Glaskomplex, ob diese Stadt wirklich «das größte Casino Deutschlands» brauche. Und auf einem Plastiksofa in einem alten Ringlokschuppen, der von fern an griechische Theater erinnert, hörten wir, dass in Mülheim die Architektur genau so gemischt ist wie die Bevölkerung und dass es deshalb so schwer sei, ein kulturelles Angebot für alle zu machen.

Wir haben auf der Suche nach einem Projekt schätzungsweise mit 200 Menschen gesprochen. Und dabei haben wir uns - das ist wohl nicht verborgen geblieben - in das Ruhrgebiet verliebt, an dem noch immer so viele alte Urteile haften: in die spröden zusammengewürfelten Städte, denen man all ihre Industrieepochen ansieht, in die grünen Inseln der Südstädte mit ihren neubürgerlichen Joggern und die heruntergekommenen Winkel der Nordstädte mit ihren alten Idiomen («ich glaub, mir platzt die Fontanelle...»), die zusammengebastelten Kleingärten und die Kultur der Kioske an jeder zweiten Ecke. Vor allem aber waren wir zutiefst beeindruckt von der Vielfalt der bürgerschaftlichen Initiativen, der Stiftungen, der kommunalen Einrichtungen, die, in besseren Zeiten entstanden, mit großem Engagement bewahrt werden. Wir fanden, wonach so oft in diesem jammernden Land gerufen wird: «Exzellenz». Wir be-gegneten ihr in Schulen mit 80 % Migrantenanteil, in denen alle Kinder exzellentes Deutsch sprechen, in Bibliotheken auf dem modernsten Stand mit freundlichen und hilfreichen Mitarbeitern, bei Intendanten und Orchesterleitern, die der Kunst verpflichtet sind und gleichermaßen dem Gedanken, dass sie ein Privileg geschenkt bekom-men haben und eine Pflicht zum ‹Zurückgeben› verspüren. 

So stießen wir schließlich in Bochum auf JeKi mit seiner erstaunlich gut funktionierenden Kooperation von Staat und Bürgergesellschaft, von Mäzenatentum und Musikern, ein Modell auch dafür, dass ohne diese Art der Zusammenarbeit keine haltbaren, dauerhaften Neuerungen entstehen. Jedem Kind ein Instrument im ganzen Ruhrgebiet - das kann nicht einer schaffen. Aber mit dem politischen Fokus und den entsprechenden Mitteln, mit engagierten Schulen und Kommunalpolitikern, mit der Hilfe des Landes und Sponsorgeldern wurde es möglich. Diese Stiftung soll, so steht es in ihrer Satzung, innovative Projekte der Kunst und Kultur fördern und anstiften, möglichst im internationalen Kontext. Aber ist es die Aufgabe einer nationalen Kulturstiftung, sich um die musikalische Alphabetisierung einer Region zu kümmern? Niemand hat in unserer Vorbereitungszeit ernsthaft diese Frage gestellt. Merkwürdig - oder vielleicht auch nicht. Denn alle wissen: dass uns die großen kulturellen Traditionen und die ‹nationalen Schätze›, die kulturellen Leuchttürme, die weit über die Grenzen leuchten - das Theatertreffen, die documenta, die Musikfestivals-, dass uns die vielen Institutionen und Orte, an denen das Logo ‹Weltkulturerbe› klebt, nichts nützen, wenn wir nicht zu den Erben gehen, wenn die Strahlen der Leuchttür-me nicht in die Vorstädte reichen, wenn wir die Schätze nicht immer wieder umschmelzen in unsere Zeit hinein. In der Kultur - so ist es tausendfach geschrieben und beschworen - wird die gemeinsame Welt, in der wir leben, beredet, erzählt, besungen und überschritten, wird die Frage gestellt, wie wir miteinander leben wollen, über die in der Politik entschieden wird - im Idealfall auch: miteinander. Dieses Gespräch der Gesellschaft über sich selbst und über ihre Möglichkeiten aber setzt voraus, dass die Sprachen gelernt werden: die der Öffentlichkeit, die der Politik - aber auch die der Künste.

Vielleicht ist das ja die größte und teuerste Innovation, die wir uns leisten müssen, die Arbeit an den ästhetischen ‹basics›. Mit dem Tanzplan Deutschland (einer Kooperation von Kommunen, Ländern und Bund), mit dem Netzwerk Neue Musik, aber auch mit vielen kleineren Projekten gibt die Kulturstiftung Impulse in die Breite. Aber auch nach PISA-Schock, Rütli-Schwur und Rhythm is it!-Euphorie ist es noch lange nicht selbstverständlich und getan, dass alle Kinder in Deutschland in unsere zerklüf-tete, multidimensionale, nationale und globalisierte Kultur eingeführt, dass sie ästhetisch so gebildet werden, dass sie wissen, was aus ihren iPods und PCs kommt, dass sie analysieren und bewerten können, mit welchen Symbolen sie wozu überredet werden sollen, dass sie wissen, wie die Töne, die Bilder, die Geschichten zustande kommen, in denen sie leben, dass sie lernen, wie man das machen kann. «Nicht musikalisch zu sein, ist erlernt» - das sagte Zoltan Kodály, der Begründer der großen ungarischen Kindergarten- und Schulmusiktradition. Fürwahr, es muss viel geschehen, damit Kinder - und Erwachsene - nicht singen, keine Lust haben, ein Instrument zu lernen, lieber in Second Life ihre Phantasien solitär leben, statt sie mit anderen zu schaffen. 

Wir lehren die Nachwachsenden zu schreiben und zu lesen, damit sie ihren Willen ausdrücken und miteinander reden können, wir lehren sie Mathematik, wir unterrich-ten sie in Naturwissenschaften, damit sie die Welt begreifen und gestalten können. Niemand fragt da nach einer Begründung, alle rufen nach einer Optimierung, und die Politiker bemühen sich um Vollzug. Aber immer noch mühen sich Musiker, Maler und Schriftsteller, Kulturpolitiker und Eltern mit Begründungen für ästhetische Bildung ab. Müssen wir immer wieder - vom 3. Buch der Politeia über Rousseau und die Re-formpädagogiken der 1920er und 1970er Jahre begründen, was wir wissen: dass Kultur und Kunst Teil des öffentlichen Lebens sind, so unverzichtbar wie Politik, wie Ökonomie und wie Architektur? Müssen Kulturpolitiker immer wieder begründen, was seit biblischen Zeiten bekannt ist? Die erste Stadt, so steht es im Buch Genesis, brauchte vier Berufe: den Städtebauern, den Landmann, den Schmied und den Sän-ger. Damit sind - wenn wir vom Gebären und Kochen einmal absehen - alle menschlichen Tätigkeitsbereiche genannt, die der einzelne wie eine ganze Gesell-schaft beherrschen müssen, um zu überleben und zu leben: Bauen, Landwirtschaft, Industrie - und Kultur: Die Vergewisserung über die Herkunft und die Projektion in die Zukunft, die Kultivierung der Gefühle und die Feier der Gemeinschaft. Alles das muss gelernt und geübt werden. Denn es ist im Laufe unserer Geschichte ebenso arbeitsteilig, so komplex und so schwierig geworden wie Molekularbiologie, System-theorie, Unschärferelation und Informatik. Die wissenschaftlichen Revolutionen der Evolutionstheorie, der Astrophysik, der Psychologie mit ihren kontraintuitiven Er-kenntnissen sind zur Grundlage unserer Zivilisation geworden. Sie setzen lange Lernprozesse voraus. Und so auch die Kunst: ihre Befreiung von den Bindungen des Kultus, die nachlassende normative Kraft der idealistischen Systeme, Bilder, Klänge, den Weg der ‹autonomen› Kunst in die Spezialisierung und fort vom Massenpublikum; und andererseits die mit den technischen Reproduktionsmöglichkeiten einset-zende Kommerzialisierung der Bilder und Harmonien, die kulturindustriell verbreitete Perfektion - all das zu erkennen und zu verarbeiten erfordert ausgebildete Augen und Ohren. Und verlangt komplexe Lernprozesse. An deren Anfang aber steht die Alphabetisierung. Und Demokratie heißt niemanden von ihr auszuschließen. 

Es ist, so heißt es immer, seit PISA einiges in Bewegung gekommen auch in dieser Hinsicht. Aber eben: «seit PISA». Ich begrüße die Bildungs-Allianzen, die zurzeit an vielen Orten Deutschlands entstehen, die - etwa unter dem Einfluss des unbestreitbar inspirierenden Films Rhythm is it! - den Tanz in die Lehrpläne der Schulen ein-schleusen wollen. Und es kann auch nichts schaden, dass uns Gehirnforscher noch einmal mit bunten Scans beweisen, was wir schon lange wussten: dass die Aus-übung von Musik zu den komplexesten Leistungen unseres Gehirns (und unseres Körpers!) gehört: Ein Musiker liest vom Blatt, transformiert die Notenschrift in Anwei-sungen an eine Vielzahl von Organen, Muskeln, Sehnen, muss gleichzeitig auf die Anweisungen des Dirigenten oder des Lead-Gitarristen achten, auf die Mitspieler hö-ren und in Bruchteilen von Sekunden seine Leistung an sie anpassen. Das ist Megamultitasking von Gehirn, Feinmotorik, Wahrnehmung. Musik - so schreibt es Manfred Spitzer in seinem von Musik zur Liebe ebenso wie unerschöpflicher Wiss-begier getragenen Buch Musik im Kopf (Schattauer 2005) - ist der einzige Vorgang, bei dem buchstäblich das ganze Gehirn gleichzeitig tätig ist, von der Großhirnrinde bis zum limbischen System, vom Hippocampus bis zum Stammhirn. 

Wer Musik macht, steigert seinen Intelligenzquotienten, seine sozialen Kompetenzen und seine Mathematiknoten - dergestalt tröpfeln solche Erkenntnisse der Neurophysiologen irgendwann in die Zeitungen. Wer junge Menschen an ihren Körpern packt und zu einem anspruchsvollen Gemeinschaftsprodukt motiviert, der festigt ihren Teamgeist, ihre Leistungsbereitschaft, ihr Selbstbewusstsein. Wer Kinder zum Chorsingen bringt, so die ‹Lehre› aus dem sentimentalen Block-Buster Die Kinder des Monsieur Mathieu, der hat einen Integrationshebel für die Resozialisierung schwer erziehbarer Ghettorandalierer. Tanzen im Betrieb ist gut - vielleicht wird auch das noch kommen: BMW und RWE haben ihren Managern Rhythm is it! vorgeführt (Motivation!), Mercedes bereits tausende von Kopien des Sacre du Printemps- Events der Philharmoniker mit ihren Neuköllner Tänzern an ihre Kunden verschickt. 

Es ist eine frohe Botschaft, dass eine humanistische Erziehung zur ‹ganzen Person› auch in der computerisierten Wissensgesellschaft die beste Grundlage ist - aber brauchten wir Unternehmensberater und Manager, um das zu lernen? Kinder, die musizieren, sind ausgeglichener, haben bessere soziale Kompetenzen und einen höheren IQ - das ist richtig und wichtig. Aber vor allem ist ihre Sprache wirklich uni-versal. Die älteste Flöte, die Palöontologen fanden, ist so alt wie die ersten Höhlen-malereien und Werkzeuge. Wahrscheinlich ist Musik älter als Sprache und deren Grundlage: die körperlichste, bis ins Innere der Zellen dringende Kommunikations-form, am nächsten an den animalischen Lauten der Lust und des Kampfes. Ihr Rhythmus ist verankert in den Bewegungen unseres Leibes und die Grundlage des Zeitempfindens. Musik ist die Tätigkeit, mit der wir, anders als in der bildenden Kunst und tiefer wirkend als Theater und Poesie, uns transzendieren: in die Tiefe unserer Gefühle hinein und in den Zusammenklang mit anderen. Sie ist die abstrakteste Kunst, die die stärksten Bindungen schafft: durch ihre physikalische Wirkung, durch das Zusammenspielen mit anderen, das Musizieren. Musik macht nicht zu besseren Menschen, sie ist eine Weise, Welt zu empfangen und uns in die Welt zu setzen, be-glückend und ausbeutbar, weswegen Platon die Fürsten vor ihr warnte und die Mu-sikindustrie eine der stärksten Wirtschaftsbranchen ist. Sie kann erregen und besänf-tigen, heilen und narkotisieren, sie kann der Katalysator sozialer Emanzipationen sein («We shall overcome») und Weltbrände begleiten («…bis alles in Scherben fällt»). Auch deshalb sollten wir ihr Alphabet, ihre Semantik und ihre Grammatik so grundlegend lernen wie die der Wörter und der Zahlen. 

Ich habe mich weit entfernt von den Schulkindern, die demnächst mit viel zu großen Gitarrenkoffern und Posaunenfutteralen in ihre Schulen gehen werden. Die Mischung der Instrumente, die angeboten werden - Geige, Cello, Kontrabass, Trompete, Posaune, Querflöte, Klarinette, Horn, Gitarre, Mandoline, Akkordeon, Blockflöte - lässt alles zu: Kindersymphonieorchester, Streichquartette, Jazzbands, Punkrock-Formationen und Volksmusikensembles. An der Ergänzung durch Musikinstrumente aus anderen Kulturen wie z.B. die türkische Langhalslaute Saz oder die russische Balalaika wird gearbeitet. Aller Erfahrung nach wird Jedem Kind ein Instrument - Ruhr 2010 seine kleinen Stars produzieren, und - nach der Gaußschen Normalver-teilungskurve ist das wahrscheinlich - viele Klein-Klampfer, die über «Dona dona» oder das «House of the Rising Sun» nie hinauskommen. Es ist wie mit der ‹anderen› Alphabetisierung: Die einen werden lebenslang Gedichte schreiben und die anderen nur SMS, die einen werden Joyce lesen und die anderen BILD oder nicht einmal das. Die musikalische Alphabetisierung wird die einen in die gesteigerte Individualität Beethovenscher Quartette führen, andere in die ewigen Harmonien der Schlagermu-sik und wieder andere zu Experimenten mit Klängen anregen, zur Mischung von Tra-ditionen und Stilen und zu neuen Klangräumen. 

200 000 Schüler werden entdecken können, dass man zusammenspielen kann, und viele werden merken, dass das in Second Life nicht geht. In 1.000 Grundschulen wird der Lehrplan ergänzt um eine Tätigkeit, die nicht an Lernmaschinen zu erwerben ist, sondern nur durch Üben, individuell und miteinander. Um ein Medium, mit dem sich Sechsjährige, die nicht über den gleichen Grundwortschatz verfügen, unmittelbar verständigen können, um eine ‹Kunst›, die man uno actu lernt und ausübt. Um ein Geräusch, das man gerne hört, wenn man an diesen merkwürdigen Gebäuden vorbeigeht, in denen unsere Zukunft gestaltet wird. Jedem Kind ein Instrument ist das wertvollste Projekt, an dem ich in den vergangenen fünf Jahren mitwirken durfte.

ÜBER DIE AUTORIN

Hortensia Völckers ist die Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes. 

JEDEM KIND INSTRUMENT

Mit diesem Projekt beteiligt sich die Kulturstiftung des Bundes an der deutschen Kulturhauptstadt Europas 2010 in Essen und dem Ruhrgebiet. Alle Grundschulkinder im Ruhrgebiet erhalten regelmäßig qualifizierten Unterricht auf Musikinstrumenten ihrer Wahl.

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