Sie sind sehr wahrscheinlich ein Cyborg und wissen es nicht einmal. Haben Sie ein Smartphone? Dann sind Sie ein Cyborg. Benutzen Sie einen Computer? Gehen Sie ins Internet?
Cyborg!
Allgemeiner gesprochen: Wenn Sie heutzutage digitale Techniken und das Internet benutzen, dann sind Sie ein Cyborg. Dazu braucht es keine Mikrochip-Implantate. Sie müssen nicht aussehen wie Robocop. Sie sind ein Cyborg, weil Sie Ihre biologischen Möglichkeiten durch bestimmte Techniken erweitern. Wenn Sie diese Definition lesen, halten Sie vielleicht inne: Einen Moment — das haben die Menschen ja schon sehr viel länger getan, als es die digitale Technik gibt. Da haben Sie recht.
Wir waren schon lange Cyborgs, ehe der erste Bug in die Vakuumröhre des ersten Computers gekrochen ist.
Der Höhlenmensch, der einen Speer schwang und ein Feuer entfachte, war der erste Cyborg. Galilei, der die Himmel mit einem Fernrohr absuchte, war ein Mann der Renaissance und ein Cyborg. Wenn Sie morgens Ihre Kontaktlinsen einsetzen, sind Sie ein Cyborg.
Im Verlauf unserer Gattungsgeschichte hat die Technik unsere Sinne erweitert. Sie hat uns ermöglicht, das Leben besser zu meistern und die Welt um uns stärker zu kontrollieren. Ebenso ist sie dazu benutzt worden, uns zu unterdrücken und auszubeuten — was jeder bestätigen wird, der einmal in den Gewehrlauf eines Unterdrückers geschaut hat.
„Technik ist“, nach Melvin Kranzbergs erstem Gesetz der Technik, „weder gut noch böse, noch ist sie neutral.“ Was bestimmt also, ob Technik zu unserem Wohlergehen beiträgt, zu den Menschenrechten und zur Demokratie, oder ob sie all dies untergräbt? Was unterscheidet gute Technik von schlimmer Technik? Und wo wir gerade dabei sind, was unterscheidet Galileis Fernrohr und Ihre Kontaktlinsen von Google und Facebook? Und weshalb spielt es eine Rolle, ob wir uns als Cyborgs sehen oder nicht?
Wir müssen alle versuchen, die Antworten auf diese Fragen zu verstehen. Der Preis, den wir zu zahlen hätten, falls wir das nicht tun, könnte sehr, sehr hoch sein. Dies sind nicht lediglich Fragen zur Technik. Diese Fragen zielen ins Herz des Problems, was es heißt, im digitalen Zeitalter ein Mensch zu sein, in der Epoche des Internets. Wie wir diese Fragen beantworten, das hat entscheidende Folgen für unser Wohlergehen, sowohl individuell wie gesellschaftlich.
Das Wesen unserer Gesellschaft wird von unseren Antworten abhängen, und langfristig vielleicht sogar das Fortdauern unserer Gattung.
Der Besitz des eigenen Ichs, die Kontrolle über das Selbst im digitalen Internetzeitalter
Stellen Sie sich eine Welt vor, in der man Ihnen bei der Geburt ein Gerät zuteilt, das Sie vom ersten Augenblick an beobachtet und belauscht und Ihnen folgt. Es kann auch Ihre Gedanken lesen. Im Lauf der Jahre zeichnet das Gerät jeden Gedanken auf, jedes Wort, jede Bewegung und jede Interaktion. Es sendet all diese Informationen an einen riesigen Zentralcomputer im Besitz eines multinationalen Unternehmens. Dort werden all diese Aspekte Ihres Selbst mit Algorithmen kollationiert, um eine Simulation Ihrer selbst zu erstellen. Das Unternehmen verwendet Ihre Simulation als digitalen Doppelgänger, um Ihr Verhalten zu manipulieren.
Ihr digitaler Doppelgänger ist unbezahlbar. Er stellt all das dar, was Sie ausmacht (von Ihrem physischen Körper abgesehen). Das Unternehmen weiß, dass es Ihren Körper nicht braucht, um Sie zu besitzen. Kritiker nennen dieses System „Sklaverei 2.0“. Den ganzen Tag lang unterzieht das Unternehmen Ihre Simulation endlosen Tests. Was mögen Sie? Was macht Sie glücklich? Was macht Sie traurig? Was fürchten Sie? Wen lieben Sie? Was werden Sie heute Nachmittag tun? Das Unternehmen verwendet die Einsichten, die es aus diesen Tests gewinnt,
um Sie dazu zu bringen, das zu tun, was es möchte — vielleicht ein neues Kleid zu kaufen oder für einen gewissen Politiker zu stimmen. Das Unternehmen ist politisch. Es muss ständig wachsen und gedeihen. Da darf es natürlich nicht von Regulierungen behindert werden. Also muss es den politischen Diskurs beeinflussen. Glücklicherweise sind heute alle Politiker ebenfalls schon bei der Geburt mit einem ebensolchen Gerät ausgestattet worden wie Sie.
Also gehören dem Unternehmen auch deren digitale Doppelgänger. Dies macht es sehr viel einfacher für das Unternehmen, sich seine Wünsche zu erfüllen. Trotz alledem ist das Unternehmen nicht allwissend. Es kann immer noch Fehler machen. Es könnte beispielsweise irrtümlich zu dem Schluss kommen — auf Grund Ihrer Gedanken, Worte und Taten —, dass Sie ein Terrorist seien, obwohl Sie es nicht sind. Wenn das Unternehmen richtig liegt, ist Ihr digitaler Doppelgänger ein unschätzbares Instrument zur Manipulation Ihres Verhaltens. Wenn es sich irrt, könnte das bedeuten, dass Sie ins Gefängnis kommen. So oder so sind Sie der Verlierer. Klingt wie ein utopischer Alptraum der Cyberpunk-Science-Fiction, nicht wahr? Setzen Sie für „Unternehmen“ das Silicon Valley, für den „Zentralcomputer“ die Cloud. Setzen Sie für das „Gerät“ Ihr Smartphone und Ihren smarten home assistant und Ihre smarte Großstadt und Ihr smartes dieses und jenes.
Willkommen auf dem Planeten Erde, Zeit: etwa heute.
Überwachungskapitalismus
Wir leben in einer Welt, in der eine Handvoll multinationaler Unternehmen unbegrenzten, ständigen Zugang zu den intimsten Details unseres Lebens haben. Ihre Geräte beobachten und belauschen und verfolgen uns, zuhause, im Internet, und (in zunehmendem Maße) auf den Gehsteigen und Straßen. Dies sind keine Instrumente, die uns gehören und die wir kontrollieren.
Dies sind die Augen und Ohren jenes sozio-techno-ökonomischen Systems, das Shoshana Zuboff als „Überwachungskapitalismus“ bezeichnet hat. Wie in unserem Cyberpunk-Alptraum sind die Raubritter des Silicon Valley nicht damit zufrieden, lediglich zu beobachten und zu lauschen. Beispielsweise hat Facebook bei seiner Developer Conference 2017 verkündet, sechzig Techniker würden bereits an dem Projekt arbeiten, Ihre Gedanken — buchstäblich — zu lesen [1].
Oben habe ich die Frage gestellt, was Galileis Fernrohr und Ihre Kontaktlinsen vom Warenangebot von Facebook, Google und anderen Überwachungskapitalisten unterscheidet.
Es ist sehr wichtig, den Unterschied wirklich zu begreifen, um zu erfassen, in welchem Maße das Konzept der Persönlichkeit selbst vom Überwachungskapitalismus bedroht wird.
Als Galilei sein Teleskop benutzte, sah nur er, was er erblickte, und nur er wusste, was er anschaute. Das gilt auch für Ihre Kontaktlinsen. Wenn Galilei sein Instrument bei Facebook gekauft hätte, dann hätte Facebook, Inc., alles aufgezeichnet, was er betrachtete. Wenn Sie Ihre Linsen bei Google kaufen, dann werden diese mit eingebauten Kameras ausgerüstet sein und Alphabet, Inc., sieht alles, was Sie sehen. (Google stellt diese Linsen noch nicht her, hat aber ein Patent dafür.)[2] Wenn Sie einstweilen nicht warten können — Snapchat produziert Brillen mit Kamera.
Wenn Sie mit einem Bleistift in Ihr Tagebuch schreiben, wissen weder der Bleistift noch das Tagebuch, was Sie geschrieben haben. Wenn Sie Ihre Gedanken in ein Google-Dokument schreiben, kennt Google jedes Wort.
Wenn Sie mit der normalen Post einem Freund einen Brief schicken, weiß die Post nicht, was Sie geschrieben haben. Den Briefumschlag unterwegs zu öffnen, wäre ein schweres Vergehen. Wenn Sie Ihrem Freund eine Nachricht auf Facebook Messenger schicken, liest Facebook jedes Wort.
Wenn Sie sich auf einem Android-Handy bei Google Play Services einloggen, wird jeder Spielzug und jede Interaktion sorgfältig aufgezeichnet, an Google geschickt, für immer aufbewahrt, analysiert und vor den Schranken des Überwachungskapitalismus gegen Sie verwendet.
Früher lasen wir Zeitungen. Heute lesen die Zeitungen uns. Sie schauen YouTube und YouTube schaut auf Sie.
Sie begreifen sicher, worum es hier geht. Solange wir (als Individuen) unsere Technologie nicht selbst besitzen und unter Kontrolle haben, ist das ewige Adjektiv „smart“ nichts als ein Euphemismus für „Überwachung“. Ein Smartphone ist ein Kontrollgerät, ein smart home ist eine Verhörzelle und eine smart city ist ein Panoptikum [3].
Google, Facebook und andere Unternehmen des Überwachungskapitalismus halten die Menschheit wie in Ausbeutungsfarmen. Diese Unternehmen machen Milliarden damit, dass sie Ihnen Ihre Daten abmelken und den intimen Einblick, den diese bieten, zur Manipulation Ihres Verhaltens verwenden.
Diese Organisationen scannen ständig die Menschheit; sie existieren, um Sie zu digitalisieren, diese digitale Kopie zu besitzen und durch den Einsatz dieses Doppelgängers stets größer und mächtiger zu werden.
Wir müssen begreifen, dass diese Unternehmen keine Anomalitäten sind, sondern die Norm. Sie sind der Mainstream. Der Mainstream der Technologie ist heute ein toxisches Überschwappen des amerikanischen Laissez-faire-Kapitalismus, das den ganzen Planeten zu erfassen droht. Wir hier in Europa sind gegen die aufsteigenden giftigen Dämpfe keineswegs immun.
Unsere Politiker sind leicht durch die Millionen zu bezaubern, welche die Unternehmen über ihre Lobbys in Brüssel ausgeben. Sie sind hingerissen von der Weisheit der Singularity University (nota bene: dies ist keine Universität). Unsere Schulen decken sich mit Chromebooks für unsere Kinder ein. Unsere Steuersätze werden gesenkt, damit die Überwachungskapitalisten nicht übermäßig belastet werden, falls sie noch ein Guinness bestellen wollen. Und unsere institutionell korrumpierten Politikstrategen sind viel zu sehr damit beschäftigt, Datenschutzkonferenzen zu organisieren, bei welchen Google und Facebook die Eröffnungsvorträge halten, als dass sie unsere Interessen verteidigen würden. Ich weiß das, weil ich letztes Jahr bei einer solchen Konferenz gesprochen habe. Der Facebook-Redner hatte soeben seine Stelle bei der französischen Datenschutzbehörde aufgegeben, die ja bekannt ist für die Schönheit und Effizienz ihrer Drehtüren.
Es muss sich etwas ändern.
Und ich bin zunehmend der Überzeugung: Wenn eine solche Änderung überhaupt kommt, dann muss sie von Europa ausgehen.
Das Silicon Valley wird das Problem nicht lösen, das es selbst geschaffen hat. Vorwiegend deshalb, weil Unternehmen wie Google und Facebook Milliardenprofite nicht als Problem sehen. Der Überwachungskapitalismus ist seinen eigenen Erfolgskriterien gemäß keinesfalls problematisch. Für Unternehmen wie Google und Facebook funktioniert er wunderbar. Lächelnd studieren sie ihre Bilanzen, und den Regulierern, deren witzig winzige Strafsummen kaum über die Einkünfte eines einzigen Tages hinausgehen, lachen sie ins Gesicht. Man hat gesagt, „mit einer Geldstrafe belegbar“ bedeute nichts anderes als „für Reiche legal“.[4] Das trifft besonders dann zu, wenn es darum geht, trilliardenschwere multinationale Konzerne gesetzlich zu regulieren.
Ebenso wenig wird das Investitionskapital sich an Lösungsversuchen beteiligen, welche das immens lukrative Geschäftsmodell zerstören würden, das es mitaufgebaut hat.
Wenn Sie also Initiativen begegnen wie dem sogenannten Center for Human Technology, bei dem Investoren und ehemalige Google-Angestellte mitmischen, dann sollten Sie Fragen stellen. Und vielleicht noch ein paar Fragen übrigbehalten für Organisationen, die vorgeben, ethische Alternativen zu entwickeln, dabei aber von Überwachungskapitalisten finanziert werden.
Mozilla bekommt jedes Jahr Hunderte Millionen Dollar von Google.[5] Insgesamt hat es von diesen Unternehmen mehr als eine Milliarde erhalten. Wären Sie zufrieden, wenn diese Organisation die Entwicklung ethischer Alternativen übernähme?
Wenn wir in Europa eine andere Richtung einschlagen wollen, müssen wir die Technik anders finanzieren und aufbauen. Wir müssen den Mut haben, einen anderen Weg zu nehmen als unsere Freunde jenseits des großen Teichs. Wir müssen das Selbstvertrauen haben, dem Silicon Valley und seinen Lobbyisten zu sagen, dass wir nicht kaufen, was sie anbieten.
Und wir müssen all dies auf eine solide gesetzliche Grundlage stellen, im Hinblick auf die Menschenrechte. Sagte ich Menschenrechte? Ich meine Cyborgrechte.
Cyborgrechte sind Menschenrechte
Wir stehen vor einer Krise der Menschenrechte, die tiefgreifend ist und damit zusammenhängt, was wir unter „Menschsein“ verstehen.
Traditionell ziehen wir die Grenzen des menschlichen Selbst analog zu unseren biologischen Grenzen. Und wir haben ein System von Gesetzen und Urteilen, das darauf abzielt, die Integrität dieser Grenzen und damit die Würde des Selbst zu bewahren. Wir nennen dieses juristische System die Menschenrechte.
Leider ist diese Definition des Selbst nicht länger adäquat, um uns im digitalen Internet-Zeitalter zu beschützen. In dieser neuen Epoche erweitern wir unsere biologischen Fähigkeiten durch digitale Technik und durch das Internet. Wir dehnen unser Bewusstsein und unser Selbst mit den Mitteln moderner Technik aus. Dementsprechend müssen wir unser Verständnis von den Grenzen des Selbst so erweitern, dass es die Techniken einschließt, mit denen wir unser Selbst ausdehnen. Durch Erweiterung der Selbst-Definition können wir sicherstellen, dass die Menschenrechtsgesetze die Gesamtheit des Selbst im digitalen Zeitalter abdecken und damit schützen.
Als Cyborgs sind wir zersplitterte Wesen. Teile von uns leben in unseren Handys, Teile irgendwo auf einem Server, Teile auf einem Laptop. Die Integrität des Selbst im digitalen und vernetzten Zeitalter, in der Epoche des Internets, ist die Gesamtsumme der Integrität dieser Splitter.
Daher sind Cyborgrechte Menschenrechte, die auf das Cyborg-Selbst angewandt werden. Wir brauchen keine getrennte Auflistung von (höchstwahrscheinlich stark reduzierten) „digitalen Rechten“. Deswegen soll die Universelle Erklärung der Cyborgrechte [6] kein selbstständiges Dokument sein, sondern eine Ergänzung zur Universellen Erklärung der Menschenrechte.
Während der verfassungsmäßige Schutz der Cyborgrechte ein notwendiges Fernziel ist, müssen wir nicht auf eine Verfassungsänderung warten, bis wir handeln. Wir können und müssen beginnen, uns zu schützen, indem wir ethische Alternativen zur Mainstream-Technologie entwickeln.
Ethische Technik
Eine ethische Technik [7] ist ein Werkzeug, das Sie besitzen und kontrollieren. Ein Werkzeug, geschaffen, um Ihr Leben freundlicher und leichter zu machen. Ein Werkzeug, das Ihre Fähigkeiten steigert und Ihr Leben verbessert. Ein Werkzeug, das immer in Ihrem Interesse funktioniert und dieses niemals verletzt.
Im Gegensatz hierzu ist eine unethische Technik ein Werkzeug, das Unternehmen und Regierungen gehört und von diesen kontrolliert wird. Es befördert deren Interessen auf Kosten der Ihren. Eine solche Technik ist eine attraktiv funkelnde Falle, die sorgfältig konstruiert wurde, um Ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, Sie süchtig zu machen, jeden Ihrer Schritte zu verfolgen und ein umfassendes Profil von Ihnen anzulegen. Eine Ausbeutungsfarm, die vorgibt, ein Spielplatz zu sein.
Unethische Technik ist Gift für unsere Menschenrechte, unser Wohlergehen und unsere Demokratie.
Bessere Strukturen erschaffen
Ethische Technik wächst nicht auf Bäumen, man muss sie finanzieren. Wie das geschieht, ist sehr wichtig.
Unethische Technik wird durch Investitionskapital gefördert. Dieses Kapital investiert nicht in ein Geschäft, es investiert in den Verkauf eines Geschäfts. Und in sehr riskante Geschäfte. Ein solcher Kapitalist wird im Silicon Valley (sagen wir) fünf Millionen Dollar in zehn verschiedene Startup-Unternehmen investieren — in dem Bewusstsein, dass neun von ihnen scheitern werden. Also muss für ihn (gewöhnlich ist es ein Er) das Zehnte ein Einhorn sein, eine Milliarden-Ausnahme, damit er das Fünf – bis Zehnfache seines Geldes rausbekommt. (Es ist nicht einmal sein Geld, es gehört seinen Kunden.) Das einzige bekannte Geschäftsmodell, das in der Technik diese Art Wachstum liefert, ist die Menschenfarm. Die historische Sklaverei war lukrativ. Die Sklaverei 2.0 ist es ebenfalls.
Wir sollten nicht darüber erstaunt sein, dass ein System, das krebsartiges Wachstum so hochschätzt, zu Tumoren wie Google und Facebook geführt hat. Verblüffend ist es, dass wir offenbar lieber die Tumore feiern als den Patienten zu behandeln. Und noch überraschender ist es, dass wir so hartnäckig entschlossen zu sein scheinen, uns hier in Europa mit derselben Krankheit zu infizieren.
Das sollten wir nicht tun.
Wir sollten ethische Alternativen finanzieren.
Aus dem Gemeingut.
Für das Gemeinwohl.
Jawohl — das bedeutet: mit unseren Steuern. Dazu wären die ja eigentlich da (um gemeinsame Infrastrukturen für das Gemeinwohl aufzubauen, welche das Wohlergehen unserer Menschen und unserer Gesellschaften befördern). Wenn das Wort „Steuer“ sie erschreckt oder Ihnen zu altmodisch klingt, ersetzen Sie es einfach durch „obligatorisches Crowdfunding“ oder „demokratisierte Philanthropie“.
Ethische Technik aus dem Gemeingut zu finanzieren, bedeutet nicht, dass wir Regierungen dazu bringen, selbst unsere Technologie zu bauen, zu besitzen oder zu kontrollieren. Und es bedeutet auch nicht, dass wir Unternehmen wie Google oder Facebook nationalisieren. Zerschlagt sie in kleine Teile! Gewiss. Reguliert sie! Natürlich. Tut alles, was ihren Missbrauch der Technik weitestgehend beschränkt. Aber das einzige, was noch schlimmer wäre als ein Panoptikum in Unternehmensbesitz wäre eines unter staatlicher Kontrolle (wobei diese beiden Formen einander ja nicht unbedingt ausschließen).
Wir wollen nicht den einen Big Brother durch einen anderen ersetzen.
Wir sollten stattdessen in viele kleine und unabhängige Organisationen investieren, die nicht gewinnorientiert arbeiten, und ihnen die Aufgabe stellen, die ethischen Alternativen zu entwickeln. Nehmen wir das, was funktioniert (wie das Silicon Valley bewiesen hat): kleine Organisationen, die in immer neuen Ansätzen konkurrierend arbeiten und teilweise rasch scheitern. Und entfernen wir dabei das toxische Element: das Investitionskapital, den Wachstumsfetischismus und die profitorientierten Rückzüge.
Anstatt Startup-Unternehmen sollten wir in Europa Stayup-Unternehmen aufbauen.
Anstatt von Wegwerf-Unternehmen, die entweder rasch scheitern oder zu bösartigen Tumoren werden, sollten wir Organisationen finanzieren, die entweder rasch scheitern oder funktionierende Lieferanten von technischem Gemeingut werden.
Als ich diesen Plan vor einigen Jahren im Europäischen Parlament erwähnte, stießen meine Worte auf taube Ohren. Es ist immer noch nicht zu spät, um es zu versuchen. Aber mit jedem Tag, den wir zögern, gräbt sich der Überwachungskapitalismus tiefer und tiefer in unsere Lebenszusammenhänge hinein.
Wir müssen diese Phantasielosigkeit überwinden und unsere technische Infrastruktur auf jene Prinzipien gründen, die das Beste der Menschheit verkörpern: Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und Demokratie.
Heutzutage agiert die EU, als sei sie eine Gratis-Forschungsabteilung für das Silicon Valley. Wir finanzieren Startups, und wenn diese erfolgreich sind, dann werden sie an Unternehmen im Silicon Valley verkauft. Wenn sie scheitern, trägt dagegen der europäische Steuerzahler die Kosten. Das ist vollkommen verrückt.
Die EU muss aufhören, Startups zu finanzieren, und sich stattdessen den Stayups zuwenden. Man investiere fünf Millionen Euro in zehn Stayups, auf jedem Sektor, wo wir ethische Alternativen suchen. Im Gegensatz zu den Startups verschwinden die Stayups nicht in den Besitz von Profiteuren, sobald sie erfolgreich sind. Sie können nicht von Google oder Facebook erworben werden. Sie bleiben funktionierende europäische Unternehmen ohne Gewinnerzielungsabsicht, die daran arbeiten, Technik als Gemeingut zu liefern.
Außerdem muss die Finanzierung eines Stayup mit einer strikten Spezifizierung der Technologie verbunden sein, welche dort entwickelt werden soll. Eine bestimmte Technik, die mit öffentlichen Mitteln geschaffenwird, muss öffentliches Gut sein. Die Free Software Foundation Europe ruft dies gegenwärtig mit ihrer Kampagne „public money, public code“ ins Bewusstsein.
Wir müssen jedoch über das open-source- Prinzip hinausgehen und darauf insistieren, dass die Technik, welche von derartigen Stayups entwickelt wird, nicht nur öffentlich sein muss, sondern bereits ihrer Struktur nach unmöglich in der Verbreitung beschränkt werden kann. Das heißt: Software und Hardware müssen mit Lizenzen versehen sein, die copyleft sind. Eine copyleft-Lizenz stellt sicher, dass der, der sich öffentlicher Technologie bedient, teilen muss. Derartige Lizenzen, die ein allgemeines Teilen implizieren, sind unbedingt notwendig, damit unsere Anstrengungen nicht lediglich einen Euphemismus für Privatisierung abgeben und zu einer Tragödie des Gemeinwohlgedankens führen. Große Unternehmen mit viel Kapital dürfen sich auf keinen Fall das nehmen, was wir mit öffentlichen Mitteln schaffen, eigene Millionen hinzuinvestieren und den zusätzlichen Wert, den sie geschaffen haben, mit niemandem teilen.
Schließlich müssen wir verlangen, dass die von den Stayups aufgebauten Technologien nach dem peer-to-peer-Prinzip funktionieren. Die Daten eines Benutzers müssen auf den Geräten verbleiben, die er besitzt und kontrolliert. Und wenn Sie kommunizieren, muss dies direkt sein (ohne einen Zwischenhändler wie Google oder Facebook). Wo sich dies technisch absolut verbietet, müssen alle privaten Daten, die ein Dritter kontrolliert (ein Web-Host beispielsweise), einer Ende-zu-Ende-Verschlüsselung unterworfen sein, und nur der eigentliche Benutzer darf den einzigen Schlüssel haben.
Auch wenn ihre Investitionen in ethische Technik noch keine statistische Relevanz haben, gibt es bereits kleine Gruppen, die an Alternativen arbeiten. Mastodon [8], eine ethische Alternative zu Twitter nach dem Prinzip der Federated Cloud, wurde von einer einzigen Person (Anfang zwanzig) geschaffen. Ein paar Leute haben zusammen ein Projekt mit dem Namen Dat [9] ins Leben gerufen, das die Grundlage für ein dezentralisiertes Web sein könnte. Seit über zehn Jahren haben Freiwillige ein alternatives, nicht kommerzielles Domain-Namen-System betrieben, das OpenNIC heißt [10] und jedem einen eigenen Platz im Web verschaffen könnte…
Wenn selbst solche Samenkörner ohne jede offizielle Unterstützung zu keimen beginnen, dann stellen Sie sich vor, was möglich wäre, wenn wir tatsächlich beginnen, sie zu wässern und immer neue Setzlinge zu pflanzen. Wenn wir in Stayups investieren, könnten wir in Europa einen grundsätzlichen Wechsel in Richtung ethischer Technik einleiten. Wir können anfangen, eine Brücke zu bauen: von dem Punkt, an dem wir uns befinden, zu dem, wohin wir gelangen wollen. Von einer Welt, in der Unternehmen uns über unsere digitalen Doppelgänger in Beschlag nehmen, zu einer Welt, in der wir uns selbst gehören. Von einer Welt, in der wir nach und nach wieder zum Eigentum Anderer werden, zu einer, in welcher wir Menschen bleiben. Vom Überwachungskapitalismus zur, sagen wir: peerocracy.
Aus dem Englischen von Joachim Kalka
1 www.theguardian.com/technology/2017/apr/19/facebook-mind-reading-technology-f8
2 www.cnet.com/news/after-google-glassgoogle-developing-contact-lens-camera/
3 Das Panoptikum ist eine von dem utilitaristischen Philosophen Jeremy Bentham Ende des achtzehnten Jahrhunderts konzipierte Gefängnisarchitektur, in dessen rundem Zentralbau die speichenförmig angeordneten Zellen von der Mitte aus ständig lückenlos überwacht werden können. Verwirklicht wurde es nur in Amerika. Foucault bezieht sich in Surveiller et punir (1975; deutsch: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1976) auf dieses Modell. (A. d. Ü.)
4 olds.town/@adoxographer/101452470707273428
10 opennic.org