Wir beobachten, dass viele westliche Kulturinstitutionen und deren Förderer versuchen, ihrer eigenen eurozentrischen Perspektive zu entkommen, indem sie Künstlerinnen und künstlerischen Bewegungen, die im Kunstdiskurs des Westens bislang kaum bekannt sind, „eine Stimme geben“. Inwieweit kann dieser Versuch Ihrer Meinung nach überhaupt gelingen, wenn diese Institutionen selbst „Gatekeeper“ sind (und damit beeinflussen, wer gesehen, gehört oder gelesen werden kann)?
Rita Segato: Wenn nicht-westliche Kunstschaffende oder ganze Kunstströmungen eingeladen werden, sich an zentralen Orten des Kunstgeschehens zu präsentieren, kann dies auf zwei Arten geschehen. Die fast ausschließlich praktizierte Art ist die Aneignung oder „Entführung“ einer Stimme, eines Stils, von Themen und Formen, um diese nutzbringend in die westliche Kultur einzuflechten. Ein naheliegendes Beispiel dafür ist der Kubismus und dessen Inspiration durch afrikanische Vorbilder. Im besten Fall findet wie beim Kubismus eine „Transplantation“ von Formen und Themen oder die Kreuzung mit Stilen, Themen und Absichten europäischer Künstler statt, und zwar in einem solchen Maß, dass der außereuropäische Ursprung sogar gänzlich in Vergessenheit gerät. Für die andere, die wohl schmerzvollste und extremste Art der Aneignung steht das Musée du quai Branly. Dessen Exponate versinnbildlichen, was ich gewöhnlich als „eingekerkerte Schönheit“ bezeichne. Lassen wir uns nicht täuschen: Was dort ausgestellt wird, sind keine „ethnografischen Objekte“. Es sind Werke von Künstlern aus anderen Teilen der Welt. Im eurozentristischen Museum erweist sich besagte „Einladung“ als Prozess, in dem das Eingeladene entwurzelt, eingesperrt und zerlegt wird.
Gemeinhin wird angenommen, dass allein die Frage nach dem kulturellen Eigentum problematisch ist. Es geht aber nicht nur darum, dass die in die westliche Welt integrierten Objekte Beutegut sind, das dem westlichen Kunst- bzw. Objektverständnis einverleibt wird. Was bei dieser Art der Aneignung über die Dimension des kulturellen Eigentums hinausweist, betrifft die Entfernung eines Werks von dem Ort, an dem es seine historische Bestimmung hätte erfüllen können. Es geht im Kern um eine aus ihrer historischen Wiege und ihrer natürlichen Bahn gerissenen Schönheit, die gestrahlt und gewirkt hätte, bis sie in ihren ursprünglichen Lebenswelten überflüssig geworden und verglüht wäre. Diese Schönheit entfaltet ihre volle Bedeutung nur, wenn sie verwoben bleibt mit dem Netz aus Beziehungen, aus dem sie einst hervorgegangen ist.
Parallel zu dieser Aneignung wird Künstlern aus der „anderen Welt“ weisgemacht, dass die Werke ihres Kontinents erst vor dem europäischen Blick vollständig zur Geltung kommen, nur durch ihn Bestand haben. In der Tat sind es die Kunstkritikerinnen, Museumsdirektoren und Mäzene, die die Tore zur weltweiten Verbreitung der Stimmen und Werke von Künstlerinnen aus der „anderen Welt“ zu öffnen vermögen – oder nicht – und ihnen damit globale Präsenz und Sichtbarkeit garantieren – oder nicht. Wenn das erfolgreich passiert, kommt es bei diesem Übergang und Eintritt in das globale Schema ästhetischen Geschmacks zu Verlusten ursprünglicher Bedeutung und Absichten. Ein gewisses Maß an Entwurzelung ist gar nicht zu verhindern. Denn ab nun vollzieht sich eine unumkehrbare Absorption und Ausrichtung der Werke auf ihr neues Umfeld.
Europa bleibt von dieser ideellen Aushöhlung nicht-westlicher Kunstwerke nicht unbeschadet. So erblickt es sich selbst im narzisstischen Spiegel seiner Museen und Ausstellungssäle, während der wahre Spiegel, der Widerstand ausüben und Defizite aufzeigen könnte, fehlt. Denn die ausgestellten Objekte können den Blick schon nicht mehr erwidern. Das „Andere“ wird lediglich in den mehr oder weniger sichtbaren Vitrinen kolonialer Macht ausgestellt.
Es gibt nur einen Weg, das Dasein einer „anderen Kunst“ in all seiner Kraft zu garantieren und mithin eines Europas, das seine existenzielle Einsamkeit, seine Langeweile und den Verfall seines kreativen Antriebs zu überwinden vermag. Er besteht darin, ein Verständnis für den Aufbau einer radikal pluralistischen Welt zu entwickeln. Das meint eine Welt, in der es keine Hegemonieansprüche mehr gibt und in der Differenz an sich einen Wert darstellt.
Die selten praktizierte Alternative, die zweite Option, ist also ein Dialog auf Augenhöhe zwischen Kulturschaffenden, Ausstellerinnen und Kulturmäzenen der unterschiedlichen Welten, der vergessen lässt, dass der geopolitische Norden den Schlüssel zur weltweiten Verbreitung von Ideen und Kunstwerken in der Hand hält. Ein Dialog, bei dem Europa akzeptieren und verstehen kann, dass sich in „anderen Welten“ kreative Schaffenskraft aus der Verankerung im Lokalen speist und dass diese Welten nach innen gewandt, auf sich selbst ausgerichtet und auf sich selbst bezogen bleiben.
Stehen die Ideen der europäischen Aufklärung und der mit ihr verbundene Liberalismus der Dekolonialisierung der Welt entgegen? Ist die Dekolonialisierung nicht selbst ein hegemoniales Projekt?
Kritische Perspektiven auf die Macht des Kolonialismus propagieren keine „Dekolonialisierung“, weil der Begriff eine wiederzugewinnende Ursprünglichkeit impliziert, gewissermaßen den „reinen Indigenen“ extrapoliert. Ein derartiger Kulturalismus nimmt zwangsläufig fundamentalistische Züge an, die auf die Auslöschung des „Anderen“ ausgerichtet sind. Mir geht es stattdessen um historische Projekte, die durch den kolonialen Eingriff in ihrer Entwicklung aufgehalten wurden, die jedoch in ihrer eigenen Zeitlichkeit fortbestehen und immer in Bewegung sind. Es kommt darauf an, den Weg für ihre zukünftige Umsetzung zu ebnen. Für ein Volk ist das historische Projekt, weiterhin als Volk Bestand zu haben.
Statt von Dekolonialisierung spreche ich deshalb davon, nicht-koloniale Breschen und Öffnungen in jene Struktur zu schlagen, die kulturelle Subjektivität unterworfen haben. Das Ziel besteht darin, Lücken und Risse in der hegemonialen Ordnung zu schaffen. Es geht somit nicht um eine Gegenhegemonie, die darauf hinausläuft, den einen hegemonialen Diskurs durch einen anderen, oder ein Existenzmodell durch ein anderes, zu ersetzen. Es geht um ein Konzept, das die Notwendigkeit einer Hegemonie in Frage stellt und darauf abzielt, Hegemonien gar nicht erst wirksam werden zu lassen. Das pluralistische historische Projekt ist auf einen historischen Horizont ausgerichtet und kann vielfältigste Lebensentwürfe und deren neue Ausdrucksformen in sich aufnehmen.
Welche Rolle spielen kulturelle Identität und Kultur in Emanzipationsbewegungen von kolonialen Machtsystemen? Könnte Solidarität zwischen Angehörigen verschiedener Kulturen den globalen Zusammenhalt fördern? Woraus könnte sie, Ihrer Meinung nach, in der Zukunft am wahrscheinlichsten erwachsen?
Solidarität setzt einen interkulturellen Dialog voraus, bei dem die einzelnen Zivilisationen erkennen, was sie und die „Anderen“ jeweils anbieten können und woran es ihnen jeweils mangelt. So können die Grenzen eigener Gewissheiten und der eigener Existenz bewusst werden. Nur eine grundlegende pluralistische Solidarität, die mit aufrichtiger Neugier und Achtung gegenüber den Ansichten und Vorstellungen des „Anderen“ einhergeht, kann zu einer friedlichen Welt führen.
Multikulturalismus meine ich allerdings damit nicht. Hier wurde zwar Vielfalt zumindest oberflächlich erfahr- und sichtbar gemacht, jedoch wurden Identitäten und Kulturen gewissermaßen eingefroren und fetischisiert. Überdies wurden den Menschen schon im Voraus die gleichen Lebensziele unterstellt und Unterschiede in den Vorstellungen von Glück und Zufriedenheit unterschätzt oder einfach ignoriert.
So hat der Multikulturalismus zum Beispiel die Kluft zwischen dem „historischen Projekt der Verbindungen“, mit dem das Leben einer lokalen Gemeinde aufgebaut und fortgeführt wird, und dem „historischen Projekt der Dinge“vernachlässigt, das auf Zufriedenheit durch Konsum ausgerichtet ist, Individualismus hervorbringt und fördert. Obwohl die meisten von uns im alltäglichen Leben zwischen beiden Polen hin- und herwechseln können, so tendieren Kulturen in ihrer letztendlichen Zielstellung menschlicher Entwicklung zu dem einen oder anderen. Der Multikulturalismus konnte diese gegensätzlichen Zielstellungen nicht integrieren. Daher kann er die Bedürfnisse einer pluralistischen Welt nicht befriedigen und wahrhaftig solidarische Beziehungen über Unterschiede hinweg nicht aufbauen.
Die Fragen stellten Friederike Tappe-Hornbostel und Anja Piske.
Aus dem Spanischen von Stefan Gabriel.